Fantasien der Nacht
aufgehende Sonne den Himmel zum Leuchten brachte, warf Tamara einen Blick in Daniels Schlafzimmer. Er lag vollständig bekleidet auf der Tagesdecke und schnarchte lauthals. Eine halb leere Flasche lag auf dem Boden neben dem Bett. Der Verschluss war nicht richtig zugedreht. Feuchtigkeit sprenkelte den Flaschenhals, und einige Tropfen Whiskey durchnässten den ausgetretenen Teppich. In einer bernsteinfarbenen Pfütze auf dem Nachttisch lag ein Glas.
Tamara legte die Stirn in Falten, als sie leise das Zimmer durchquerte, die Flasche und das Glas aufnahm und wieder hinausging. Was veranlasste ihn nur dazu, jede Nacht zu trinken bis zum Umfallen? In all den Jahren, die sie ihn nun schon kannte, hatte sie Daniel bei verschiedenen Gelegenheiten nie mehr als ein oder zwei Gläser trinken sehen.
Sie hatte ihn niemals betrunken erlebt. Sie kehrte mit einer Handvoll Papiertücher zurück und wischte die Pfützen auf, ehe sie die Decke über Daniel breitete und auf Zehenspitzen hinausging. Etwas machte Daniel zu schaffen – etwas anderes als das Wissen darum, dass sie ihre Nächte mit dem Mann verbrachte, den er zeit seines Lebens als seinen Feind betrachtet hatte.
Sie verdrängte die sorgenvollen Gedanken aus ihrem Bewusstsein, entschlossen, sich allein auf die guten Dinge zu besinnen, die bevorstanden. Heute Abend würden sich Daniel und Eric treffen. Sie hegte keinerlei Zweifel, dass die beiden mit der Zeit Freunde werden würden. Und auch Curtis würde zur Vernunft kommen. Selbst wenn er vorübergehend den Kopf verloren hatte, war er dennoch ein intelligenter Mensch. Er würde die Wahrheit erkennen, wenn sie ihm geradewegs ins Gesicht blickte.
Einen Moment lang zeichnete sich die Zukunft vor ihr ab, während sie bei einem dampfenden, duftenden Schaumbad entspannte. Wie ein gigantisches schwarzes Loch mit einem Fragezeichen darin schwebte die Vision in ihrem Verstand. Indes, sie achtete nicht darauf. Im Augenblick hatte sie genug damit zu tun, die Gegenwart auf die Reihe zu bekommen.
Über die Zukunft konnte sie sich später Gedanken machen, wenn sich die Lage wieder beruhigt hatte.
Sie beabsichtigte, zunächst zu baden, sich dann frische Kleider anzuziehen und schließlich zu Eric zurückzufahren, um sich zu vergewissern, ob die Arbeiter wie angekündigt eingetroffen waren. Mit der gleißenden Sonne, deren Strahlen draußen vom Schnee reflektiert wurden, kam die körperliche und emotionale Erschöpfung.
Gänzlich gegen ihren Willen schlief sie in der Badewanne ein, gleichwohl, sie schlief nicht sonderlich gut. Ihre Träume waren beängstigend, ihr Schlummer unruhig. Sie sah sich selbst in hohem Alter, mit weißem Haar und tiefen Falten im Gesicht. Dann veränderte sich der Traum, und sie stand vor einem kalten Grabstein, in den ihr Name eingraviert war. Sie sah Eric, der danebenstand – zusammengekrümmt vor Trauer und umgeben von der bitteren Kälte jener trüben Winternacht.
Sie fuhr aus dem Schlaf auf und stellte fest, dass wohl auch das inzwischen kalte Wasser, in dem ihr Körper ruhte, einen Anteil an der scheinbaren Lebendigkeit ihres Traums gehabt haben mochte. Gleichwohl gelang es ihr nicht, die in ihrem Verstand nachhallenden Bilder abzuschütteln.
„So muss es nicht kommen“, sagte sie laut und vernehmlich. Und sie wusste, dass das nichts als die Wahrheit war. Eric hatte ihr erklärt, was es bedeutete, zu jenen zu gehören, die er die Auserwählten nannte. Der Gedanke durchtoste sie, um sie gleich einem Blatt im Sturm erzittern zu lassen. Sie hatte die Möglichkeit, zu dem zu werden, was er war …
Tamara presste eine Handfläche auf ihre Stirn und schüttelte sich. Später. Sie würde später über dies alles nachdenken. All das war mehr, als sie im Moment zu verarbeiten vermochte. Sie trocknete sich übertrieben gründlich ab, um die Gänsehaut loszuwerden, die ihr das kalte Wasser beschert hatte, und kleidete sich hastig an. Ein Blick auf die Uhr neben ihrem Bett verscheuchte jeden anderen Gedanken aus ihrem Kopf. Mittag! Inzwischen müsste Curtis …
Sie nahm zwei Stufen auf einmal, als sie die Treppe hinabeilte, und hielt am Fuß der Stiegen erschrocken inne, als sie Curtis gemütlich in einem der Polstersessel sitzen sah, in aller Ruhe an einer Tasse Kaffee nippend und Zeitung lesend. Daniel, der inzwischen wach war und neben Curtis saß, erhob sich, und sie spürte, wie sein blutunterlaufener Blick über ihr immer noch feuchtes Haar und ihre hastig übergeworfenen Kleider glitt.
Seine Augen
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