2012
Copyright © 2012 Tilman Janus, Berlin
www.tilmanjanus.de
[email protected] Foto: © Berchtesgaden - Fotolia.com
Wir küssten uns. Wir küssten uns so lange, bis Amor, unser kleiner, lackschwarzer Kater, auf das Bett sprang und sich mit einem fordernden Miauen zwischen uns drängte. Wanja nahm ihn auf den Arm, ich streichelte das pelzige Köpfchen, und währenddessen küssten wir uns weiter und immer weiter und waren dabei so traurig wie vielleicht noch nie in unserem ganzen Leben.
»Ein halbes Jahr!«, brummte ich schniefend, indem ich kurz das Küssen unterbrach. »Und auch noch so schrecklich weit weg!«
»Wir denken einfach, dass es nur ein halber Monat ist«, schlug Wanja tapfer vor.
»Schon ein halber Tag ist zu lange«, knurrte ich.
»Ja, Erik!«, stimmte Wanja mir zu. Dann begann das Küssen wieder von vorn. Unser Kater sprang auf das Fensterbrett und gab es auf, seine Menschen zum Öffnen einer Futterdose zu bewegen.
Es war unser letzter gemeinsamer Abend. Noch niemandem war es bisher gelungen, uns für längere Zeit voneinander zu trennen. Ich, der Sohn eines begüterten Arztehepaares, und Wanja, Sprössling der Haushälterin dieses Arztehepaares, hatten bereits als kleine Kinder jeden Tag zusammen gespielt.
»Das geht schon vorbei«, hatte meine Mutter mit missbilligendem Lippenkräuseln gemeint. »Wenn Erik älter ist, wird er merken, dass dieser Junge kein passender Umgang für ihn ist. Dieser Fehltritt einer russischen Flüchtlingsfrau!«
Doch es ging nicht vorbei.
Wanja und ich kamen in dieselbe Klasse und saßen am selben Schultisch. Wenn der eine krank wurde und fehlte, konnten die Lehrer sicher sein, dass am nächsten Tag der andere ebenfalls leidend war. Dann lagen wir in dem kleinen Gartenhäuschen auf dem Anwesen meiner Eltern, in dem Wanja mit seiner Mutter wohnte, zusammen im Bett und ließen uns von seiner »Mamuschka« gesund pflegen. Meine Mutter kam nie vor dem Abend nach Hause und kümmerte sich selten um mich. So wurden diese Krankenlager die Keimzelle erster, schüchterner Zärtlichkeiten. In ahnungsloser Unschuld streichelten wir einander scheu und verlegen. Niemals ärgerten oder quälten wir uns gegenseitig, wie es Kinder oft tun. Immer trat einer für den anderen ein.
Später genossen wir schon sehr bewusst das beglückende Gefühl, die Haut des anderen auf der eigenen zu spüren, ohne den Grund dafür zu kennen. Wir saßen lange eng umarmt auf einer Wiese oder in Wanjas Bett und rätselten darüber, was es bedeuten sollte, wenn Wanjas Mutter wieder einmal sagte: »Bevorr Mutterr kommt nach Haus, Errik, geh zu dirr hinnübber, in eigene Ziimer!«
Noch später dann erkundeten wir den Körper des Gefährten ganz und gar. Inzwischen verstanden wir, dass viele Leute schwule Jungs nicht mochten, allen voran meine Eltern. Wir dagegen fühlten uns dankbar und glücklich, dass wir so waren, wie wir waren. Oft versteckten wir uns im zugewachsenen Labyrinth des Gartens und verglichen einander mit jedem sprießenden Haar und jedem Millimeter männlichen Wachstumsfortschritts. Den glühenden Aufruhr der ersten Samenergüsse erlebten wir in geheimster, innigster Vertrautheit. Wir küssten uns bei jeder Gelegenheit zungenheiß und kannten jeden Quadratzentimeter des anderen blind mit Fingerspitzen und Lippen.
Ich stahl mich oft auch nachts heimlich, mit rasendem Herzklopfen, durch den finsteren Garten in Wanjas Bett. Es gab nichts, was der eine vor dem anderen verborgen hielt. Es galt uns als Ehrensache, alles zusammen zu tun. Nie wichsten wir zum Beispiel alleine, so wie Millionen anderer Jungs auf der weiten Welt – das wäre uns wie Verrat erschienen. Auch dafür trafen wir uns und taten es gemeinsam.
Als wir beide sechzehn waren, ertappte uns mein Vater im Gartenhaus, während ich Wanjas schönen, harten Schwanz im Mund hatte und er mir gerade stöhnend in den Rachen spritzte.
Das gab ein schreckliches Erdbeben.
»Es interessiert mich absolut nicht, dass so ein Schweinkram heute in Mode ist!«, brüllte mein Vater, der berühmte Chirurg, und er betonte dabei jedes einzelne Wort. »Und es interessiert mich auch nicht, dass dieser Schweinkram angeblich angeboren sein soll! Ich wünsche es nicht, dass mein Sohn mit einer unehelich zur Welt gekommenen, aidsinfizierten Russenschwuchtel im Bett liegt!«
D a nutzte es gar nichts, dass Wanjas Mutter energisch betonte, dass ihr Sohn vollkommen gesund sei. Sie wurde fristlos entlassen, weil