Farben der Schuld
Röttgen kurz vor seiner Ermordung telefonierte und zwar interessanterweise sowohl vor als auch nach Röttgens Tod«, referiert der Kollege Ralf Meuser. »Nachts gingen diese Anrufe bei der allgemein bekannten Seelsorgenummer rein. Tagsüber jedoch wählte der Anrufer die geheime Nummer des Sekretariats.«
»Ein Insider also«, folgert Manni. »Interessant.«
»Ja.«
»Wer hat die Gespräche angenommen?«
Meuser seufzt. »Ruth Sollner. Hartmut Warnholz. Die Apparate werden von verschiedenen Mitarbeitern benutzt. Ich fang gerade erst an.«
***
Das Mädchen stirbt. Das Mädchen ist in Gefahr, vielleicht sogar in der Gewalt des Mörders. Warum werde ich diese Angst nicht los, fragt Judith sich zum wiederholten Mal. Nein, nicht Angst, warum glaube ich zu wissen, dass es so ist? Wegen Ruth Sollners Zusammenbruch? Weil ich, wider alle Erfahrung, insgeheim glaube, dass es ein Band zwischen Mutter und Tochter gibt, dass eine Mutter spürt, wie es um ihre Tochter steht? Du verrennst dich, hat Manni gesagt, bevor sie nach einem hastigen Mittagsimbiss getrennte Wege gegangen sind. Lass uns bei den Fakten bleiben. Beatrice Sollner hat in der Telefonseelsorge gearbeitet. Genauso wie ihre Mutter. Genauso wie Röttgen und Warnholz. Die Morde sind religiös motiviert, möglicherweise auch die Vergewaltigung des Mädchens. Das ist der Zusammenhang, da müssen wir ansetzen. Ja, hat sie geantwortet. Du hast ja recht. Löwner passt wohl nicht.
Judith tritt ihre Zigarette aus. Sie schwimmen. Sie haben noch immer zu viele lose Enden. Sie hat noch immer mit ihrer eigenen Schwäche zu kämpfen, mit ihrer gestörten Erinnerung. Auch Manni ist keineswegs objektiv. Der Fall geht ihm an die Substanz, wirft ihn aus der Bahn. Er ist auf den Jungen fixiert, Röttgens geheimen Sohn, was für sich genommen in Ordnung wäre, würde er diese Ermittlungen nicht mehr und mehr wie einen persönlich motivierten Feldzug gegen die katholische Kirche führen.
Ihr Handy spielt Queen, zum wiederholten Mal. Sie checkt das Display. Zögert. Sie sollte rangehen, sich weitere Flüche von Kühn anhören, weitere persönliche Anfeindungen, wie sehr sie sich wieder mal verrennt. Sie drückt ihn weg und läuft durch einen gepflegten Vorgarten auf die Villa der Schumachers zu. Manni wird noch mal Ruth Sollner vernehmen, sie selbst Hartmut Warnholz, so haben sie das besprochen. Sie hat Manni nicht gesagt, dass sie vorher noch einen Abstecher zu Janas Eltern machen will, weil sie keine Kraft für eine weitere Diskussion hat, weil sie selbst nicht genau weiß, was sie hier zu finden hofft. Sie drückt auf die Klingel. Eine weitere Klingel an noch einer Tür – die wievielte ist das an diesem Tag?
»Ja, bitte?« Die Sprecherin ist schön, auf eine strenge, freudlose Art und Weise.
»Frau Schumacher?« Judith reicht der Frau ihren Dienstausweis. »Ich würde gern kurz mit Ihnen über Ihre Tochter Jana sprechen.«
Das Wohnzimmer ist ein Schrein. Die Wände sind mit Fotos von Jana von der Geburt bis zur Pubertät dekoriert. Über dem polierten Flügel hängt ein sicher ein mal zwei Meter großes Ölporträt der etwa 14-Jährigen, das absurd naturalistisch wirkt. Was soll sie sagen? Was für ein schönes, zartes Mädchen? Es tut mir so leid? Nichts erscheint passend. Stumm lässt sie sich von Edith Schumacher auf einen Stuhl dirigieren.
Es gab niemals ein einziges gerahmtes Foto meines Vaters im Haus meiner Mutter, fällt ihr ein. Seine Existenz wurde nicht geleugnet, das nicht. Sie wurde nur einfach kaum erwähnt, und die wenigen Bilder von ihm klebten in einem niemals vollendeten Fotoalbum, das meine Mutter mir gab, als ich beinahe erwachsen war.
»Mein einziges Kind.« Edith Schumacher spricht leise und kultiviert. Trotzdem glaubt Judith, den Schmerz in der Stimme zu hören, nein, nicht zu hören, zu erspüren. Wie einen Oberton, der knapp außerhalb der wahrnehmbaren Frequenz mitschwingt. Sie denkt an ihren Vater, Thomas Engel. Hätte er sie besser verstanden als ihr Stiefvater? Wäre ihr Leben leichter gewesen mit ihm? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Im Garten der Schumachers blühen Schneeglöckchen. Blaumeisen balgen sich um den besten Platz auf einem Futterring.
»Können Sie sich noch an Janas Freundin erinnern? Beatrice Sollner?«
»Natürlich, ja. Eine Schulkameradin. Kein guter Umgang, viel zu ordinär, aber Jana hatte einen Narren an ihr gefressen.«
Beatrice ist nicht hier, natürlich nicht. Niemals hätte sie sich zu dieser Frau
Weitere Kostenlose Bücher