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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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ablöste. Der ist bestimmt einsam und fühlt sich halt besser, wenn er eine menschliche Stimme hört. Ja, du hast recht, hatte sie erwidert und während sie ihren Mantel anzog, hatte sie das sogar geglaubt und sich für ihre Hysterie gescholten. Doch auf der Straße kam diese Angst zurück, sprang sie an, biss sich an ihr fest. Jemand verfolgt und beobachtet mich – dieser Anrufer verfolgt mich, hatte sie gedacht, und sie war schneller und schneller gelaufen und hatte sich immer wieder rumgedreht. Aber da war niemand, absolut niemand, der sich für sie zu interessieren schien.
    Schlafen, du musst schlafen, du bist überreizt, du bist hysterisch, nach der Sorge um Bea und dem Mord, du musst dich erholen, hatte sie sich beschworen, als sie schließlich in ihrem Bett lag. Doch trotz der Lärmstopper in ihren Ohren konnte sie den fremden Atem immer noch hören, lauter sogar, und sobald sie die Augen schloss, strich er ihr übers Gesicht. Am Ende hatte sie kapituliert und eine Tablette genommen. Und dann, kaum dass sie in einen betäubten Tiefschlaf zu sinken begann, riss die Türklingel sie wieder hoch und der blonde Kommissar drängte ein weiteres Mal in ihre Wohnung und stellte weitere schreckliche Fragen. Warum hatte Ruth verschwiegen, dass Georg Röttgen unbeliebt gewesen war? Hatte sie je ein Verhältnis mit dem Priester gehabt, hatte sie gar ein Kind mit ihm gezeugt? War Stefan wirklich Beatrices leiblicher Vater? Und Beatrice selbst, war sie jemals schwanger gewesen? Als der Kommissar endlich ging, war an Schlaf nicht mehr zu denken.
    Wasser, warmes Wasser. Es hüllt sie ein, beruhigt sie, reinigt sie. Es ist Verschwendung, solange zu duschen. Trotzdem muss sie sich dazu überwinden, den Hahn endlich zuzudrehen. Ihre Glieder sind schwer, wie die einer alten Frau, als sie aus der Wanne steigt. Sie hüllt sich in ein Badetuch. Auflösung, denkt sie, und mustert ihr verquollenes Gesicht im Spiegel. Mein Leben ist in Auflösung begriffen, ist es vielleicht schon seit Jahren, schon seit Stefan fortging, und natürlich habe ich das die ganze Zeit gewusst, ich wollte es mir nur nicht eingestehen. Ich wollte nicht wahrhaben, wie einsam ich bin, genauso einsam wie die Anrufer, die es nicht aushalten, wenn die Nacht in ihre Wohnungen kriecht, denn die Nacht hat die Sehnsucht im Schlepptau, die Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und echter Berührung. Die Sehnsucht nach dem Gefühl, zu jemandem zu gehören.
    Sie müssen mir sagen, was Sie wissen, das ist sehr wichtig, hatte der blonde Kommissar gedrängt. Jemand muss dieses ungute Schweigen brechen, sonst können wir den Mörder Ihres Chefs nicht finden, sonst werden vielleicht noch weitere Morde geschehen. Aber sie hatte geschwiegen, hatte ihm auch nichts von dem Anruf erzählt und von dem seltsamen Verhalten Georg Röttgens in jener Nacht vor seinem Tod.
    Dämonen. Wieder muss sie an das Gespräch mit Hartmut Warnholz über den armen Hiob denken. Wie kann es sein, dass sich Gott mit dem Teufel einlässt, wieso lässt er das Böse zu, statt es zu vernichten? Gott ist Liebe. Gott hat seinen Sohn geopfert für die Sünden der Menschen, sagt sie sich vor. Aber ist das nicht eigentlich nur eine weitere Geschichte von Blut und Leid und Brutalität? Gott ließ seinen eigenen Sohn jämmerlich krepieren. Das hat doch nichts mit Liebe zu tun.
    Sie wird verrückt, sie kann schon nicht mehr klar denken. Sie zieht ihren Morgenmantel über und tappt hinüber ins Wohnzimmer. Wählt Hartmut Warnholz' Telefonnummer, legt dann gleich wieder auf. Bea ist noch auf dem Friedhof, zumindest hofft Ruth, dass es so ist. Es ist sehr still in der Wohnung, nur die Heizkörper zischen leise und die Küchenuhr tickt und aus Beas Zimmer glaubt Ruth das Rascheln und Schaben der Heuschrecken zu hören. Sie sinkt in einen Sessel, hat eine wilde Vision von sich selbst, wie sie ins Zimmer ihrer Tochter eilt und die todgeweihten Insekten aus ihrem Gefängnis befreit. So real ist das Bild der wirbelnden Leiber, dass sie aufschreit. Die biblische Plage. Von Gott über die Ägypter gebracht, weil die seinen Diener Moses und dessen Gefolge nicht ziehen lassen wollten. Aber Gott hatte die Heuschrecken trotzdem nicht verdammt, er hatte sie sogar als reine Insekten bezeichnet, rein genug, um sie zu essen.
    Genug. Genug. Sie wird wirklich verrückt, glaubt schon wieder, diesen fremden Atem zu hören. Sie hastet ins Schlafzimmer und zieht sich an, schnell, ohne wie sonst groß zu überlegen, selbst fürs Make-up

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