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Farben der Schuld

Farben der Schuld

Titel: Farben der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisa Klönne
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ohne sie. Sie versucht, ihm zu folgen, sie versucht es wirklich, das ist so wichtig, sie will das so sehr. Aber sie ist noch zu klein, sie kann den Türknauf nicht drehen. Und dann hört sie seine Schritte nicht mehr, sieht ihn nicht, fühlt ihn nicht, nur der Geruch des Rucksacks hängt noch in der Luft …
    »Judith? Wo sind Sie?«
    Tränen, ihr Gesicht ist nass von Tränen, sie hat gar nicht bemerkt, dass sie weint.
    »Sie wollten niemanden töten, Judith. Es ist wichtig, dass Sie sich selbst vergeben.«
    Sie rupft Papiertaschentücher aus der Box, die der Polizeiseelsorger zu ihr herüberschiebt. Sie kann die Tränen nicht aufhalten, sie fließen und fließen, sie hat überhaupt nicht gewusst, dass sie so traurig ist. Blind vor Tränen. Blind vor Schnee. Aber das sind nur Bilder. Wunschbilder. Trugbilder. Bilder, die ihre Erinnerung ihr vorgaukelt. Sie weiß nicht, ob sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Sie kann das nicht überprüfen. Jetzt nicht, später nicht.
    »Ich muss mal zur Toilette.«
    »Über den Flur, die letzte Tür rechts.«
    Ihre Schritte hallen auf dem Fliesenboden. Ihre Augen brennen. Sie hat ein Gäste-WC erwartet, doch ganz offensichtlich steht sie in Hartmut Warnholz' privatem Badezimmer. Sie schließt die Tür ab und hält ihr Gesicht unter den Wasserhahn, bis sie die Kälte nicht mehr aushält. Ihre Augen sind trotzdem noch rot und verschwollen. Sie lässt das Wasser weiterlaufen, öffnet den linken Flügel des Badezimmerschranks, dann den rechten. Deo, Zahnpflegeutensilien, Rasiersachen, Nagelnecessaire, Pflaster, Handcreme, Kopfschmerztabletten. Nichts deutet auf die Anwesenheit einer Frau oder eines Kindes in diesem Haushalt hin. Auch nicht in dem anderen Wandschrank. Und auch das Shampoo und das Duschgel auf dem Rand der Badewanne sind Männermarken.
    Okay, genug. Sie dreht den Wasserhahn zu. Öffnet die Tür. Hartmut Warnholz steht auf dem Flur, nicht direkt vor dem Bad, aber doch in der Nähe. Er weiß, warum ich hier bin. Er verbirgt etwas. Ihr Gefühl ist sehr klar, frei von jedem Zweifel.
    Wieder schießen ihr Tränen in die Augen. Intuition. Instinkt. Ich dachte, ich hätte das verloren, aber so ist es nicht. So ist es ganz und gar nicht. Es ist alles noch da.
    »Sind Sie jetzt bereit, zurückzugehen, Judith?«
    Wortlos folgt sie ihm in sein Besprechungszimmer.
    Ein Stromstoß von einem Elektroschocker kann 300000 Volt in den Körper des Opfers jagen. Große Schmerzen, Kontrollverlust, Orientierungslosigkeit und minutenlange Lähmung sind die Folge. Durch den ungebremsten Sturz erleidet das Opfer meist zusätzliche Verletzungen: Brüche, Prellungen, Platzwunden. Die Schädelverletzung von Weiß sei so zu erklären, hat Ekaterina Petrowa gesagt. Doch der Stromschlag selbst ist schwer nachweisbar. Manchmal bleiben minimale Verbrennungen auf der Haut zurück oder eine leichte Rötung, manchmal zwei stecknadelförmige Punkte, an denen die Elektroden ihre Ladung verschossen. Und manchmal ist überhaupt nichts zu sehen.
    Manni stellt sich exakt an die Stelle, an der vor einer Woche der Chirurg Jens Weiß zu Boden ging. Urlaub wäre jetzt schön. Sommertage am Meer, kühle Drinks und heiße Nächte. Nichtstun. Nichts denken. Nicht ermitteln müssen. Er angelt nach einem Fisherman's. Jens Weiß muss über den Fahrweg oder den Fußpfad zur Kirche gelaufen sein, nicht über die matschige Wiese, davon zeugen seine Schuhe, an deren Sohlen keinerlei Erdreste klebten. Von wo kam der Täter? Folgte er Weiß oder hat er ihn an Sankt Pantaleon erwartet? Und wenn ja, hat der Chirurg ihn gesehen oder traf ihn der Stromschlag wie aus dem Nichts?
    Manni versucht sich die Lichtstimmung von der Tatnacht noch einmal zu vergegenwärtigen. Die Silhouetten der Kriminaltechniker auf der Kirchenfassade, den Park im Dunkel.
    Schattenkämpfe. Auf dem Weg hierher hat er noch einmal in der Wohnung von Georg Röttgen haltgemacht. Wieder war er überzeugt, dass dort drinnen die Lösung liegt. Wieder hat er nicht kapiert, worin sie besteht. Konzentrier dich, Mann, komm schon. Er sieht sich um. Es war dunkel am Tatort, erst die Scheinwerfer der Kriminaltechniker hatten den Platz vor dem Seitenportal beleuchtet. Von wo kam der Täter? Langsam dreht Manni sich um die eigene Achse, betrachtet Pflaster, Wege, Gebüsch und das Gebäude des Pfarramts. Direkt daneben steht eine Straßenlaterne.
    Sein Handy fiept. Sonja.
    »Hast du Zeit, Fredo, können wir uns sehen?«
    »Was ist los?«
    »Nicht am

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