Farben der Sehnsucht
sie Immobilienmaklerin war. »Ich würde die Autotüren versperren, die Fenster hochkurbeln und im Wagen sitzen bleiben, bis ein Polizeiauto oder ein Lastwagen oder sonst ein Fahrzeug mit einem vertrauenswürdigen Fahrer vorbeikommt.«
Das war genau die Antwort, die Sloan erwartet hatte, und es war die falsche Antwort. »Okay«, sagte sie und sammelte im Geiste Argumente für ihre spätere Erklärung. »Stellen wir uns also jetzt vor, daß - während Sie in Ihrem verschlossenen Wagen sitzen - ein Fahrzeug heranfährt und am Straßenrand hält. Ein Mann steigt aus, kommt zu Ihnen herüber und bietet Ihnen seine Hilfe an. Wie verhalten Sie sich?«
»Sieht er vertrauenswürdig aus?« fragte die Maklerin.
»Ich weiß nicht, wie ein vertrauenswürdiger Mensch aussieht«, konterte Sloan, »und Sie wissen das sicherlich auch nicht. Es könnte doch sehr wohl passieren, daß sich ein sehr freundlich und anständig auftretender Mann als Serienmörder entpuppt. Aber gehen wir mal davon aus, daß der Mann nicht vertrauenswürdig aussieht. Was würden Sie dann machen?«
»Ich würde die Fenster geschlossen lassen, und ... und ich würde ihn anlügen und ihm sagen, daß schon jemand unterwegs ist, um mir zu helfen!« setzte die Frau mit der Begeisterung eines Menschen hinzu, der der festen Überzeugung ist, eine gelungene Lösung gefunden zu haben. »Ist das die richtige Antwort?«
»Nun, wir werden gleich sehen, ob sie das ist oder nicht«, sagte Sloan, während sie auf einen Tisch zuging, auf dem ein Fernseher und ein Videorecorder bereitstanden. »Wenn Ihr Mann ein guter Mensch ist, der wirklich nur helfen wollte, wird er sich wieder in seinen Wagen setzen und weiterfahren. Aber was, glauben Sie, wird er tun, wenn er ein Verbre-cher ist, der Sie berauben, vergewaltigen oder gar umbringen will?«
»Was kann er denn schon tun?« fragte die Frau. »Ich sitze doch sicher bei verschlossenen Türen und Fenstern im Auto.«
»Ich werde Ihnen zeigen, was er tun kann - und tun wird, wenn er die feste Absicht dazu hat«, versetzte Sloan und schaltete den Fernseher an. Das Video zeigte eine nachgestellte Situation, die genau der von Sloan beschriebenen entsprach: Eine Frau blieb mitten in der Nacht mit ihrem Wagen auf einer verlassenen Landstraße liegen. Kurz darauf kam ein zweiter Wagen hinzu, dem ein sehr korrekt aussehender Mann entstieg, der der Frau höflich seine Hilfe anbot. Als die Frau dankend ablehnte, packte er plötzlich den Türgriff und versuchte, die Wagentür aufzureißen. Die Frau schrie vor Entsetzen auf, beruhigte sich aber wieder, als der Mann zu seinem Auto zurückrannte. Statt einzusteigen und wegzufahren, kehrte er jedoch einen Augenblick später mit einem Wagenheber zurück, schlug das Fenster ein, entsicherte die Tür, zerrte die schreiende Frau aus dem Wagen und schlug sie mit dem Wagenheber nieder.
Der Kurzfilm war so realistisch gewesen, daß Sloans Schülerinnen mit betroffenem Schweigen reagierten, als Sloan sich nach dem Ende des Films wieder an sie wandte.
»Lektion Nummer eins«, sagte Sloan mit einem aufmunternden Lächeln, um die gespannte Atmosphäre etwas aufzulockern. »Bleiben Sie nicht in Ihrem kaputten Wagen sitzen! Wenn Sie es doch tun, machen Sie sich zum potentiellen Opfer und verlocken jeden zufällig vorbeikommenden Kriminellen oder Verrückten, Ihre Lage auszunutzen.«
»Was sollen wir denn sonst tun?« fragte eine Frau, die Sloan ebenfalls flüchtig kannte, weil sie und ihr Mann in Bell Harbor eine Apotheke führten.
»Sie haben mehrere Möglichkeiten - je nachdem, wie weit Sie von der nächsten Ansiedlung entfernt sind. Keine dieser
Möglichkeiten ist besonders angenehm, aber sie sind alle samt immer noch angenehmer, als beraubt zu werden oder Schlimmeres. Wenn Sie in der Ferne ein Haus sehen - sollte es auch mehrere Kilometer entfernt sein -, marschieren Sie los. Falls Sie nicht querfeldein laufen können, gehen Sie an der Straße entlang, aber seien Sie immer darauf vorbereitet, daß Sie sich schnell hinter einem Busch oder in einem Graben verbergen müssen, wenn Sie die Scheinwerfer eines Wagens auf sich zukommen sehen. Wenn das Haus zu weit entfernt ist, um den Weg zu Fuß zurückzulegen, oder wenn die Wetterverhältnisse einen Fußmarsch nicht zulassen, müssen Sie zwar im Auto bleiben: Verlassen Sie Ihren Wagen jedoch, um sich irgendwo zu verstecken, wenn Sie ein anderes Fahrzeug auftauchen sehen. Sollte jemand aussteigen und sich Ihren Wagen ansehen, bleiben Sie unter
Weitere Kostenlose Bücher