Farben der Sehnsucht
allen Umständen in Ihrem Versteck.«
Sloan machte eine Pause, um ihren Zuhörerinnen Gelegenheit zu geben, ihre Ausführungen nachzuvollziehen. Dann fuhr sie fort: »Von Ihrem Versteck aus können Sie dann beobachten, ob es sich bei dem Anhaltenden um einen Mann oder eine Frau handelt. Falls es ein Mann ist, verfolgen Sie genau, was er tut und wie er sich verhält. Falls er versucht, in Ihren Wagen einzubrechen oder ihn zu beschädigen, oder falls er auch nur ein paar sturzbetrunkene Freunde bei sich hat, dann wissen Sie wenigstens, daß Sie in Ihrem Versteck am besten aufgehoben sind.«
Sloan griff hinter sich und nahm einen kleinen schwarzen Gegenstand vom Tisch. »Wenn Sie aber wirklich keine Lust haben, im Dunkeln an Straßen entlangzuwandern oder sich über die Felder zu schlagen, und falls Sie nur ungern eine schreckliche Nacht damit zubringen, aus Ihrem Wagen in ein Versteck und wieder zurückzuspringen und dabei die ganze Zeit um Ihr Leben zu fürchten - dann habe ich hier eine Alternative für Sie.« Sie hob ihren Arm und hielt das Handy in die Luft, das sie vom Tisch aufgenommen hatte, und ihr Lächeln verschwand. »Bitte schaffen Sie sich so ein Ding an«, sagte sie mit eindringlicher Stimme. »Ich bitte Sie wirklich darum. Es kostet Sie nicht einmal hundert Dollar, und wenn Sie es nur für Notfälle benutzen, sind auch die laufenden Kosten nicht sehr hoch. Ich verstehe natürlich, daß es für viele von Ihnen eine beträchtliche Ausgabe bedeutet, aber Sie können Ihr Leben nicht in Dollar bezahlen; und es handelt sich tatsächlich um Ihr Leben, das Sie riskieren. Wenn Sie nachts mit Ihrem Wagen liegenbleiben und ein Handy bei sich haben, müssen Sie sich weder verstecken noch eine größere Wanderung unternehmen. Sie können einfach die Polizei anrufen - beziehungsweise Ihren Mann oder Ihren Freund - und ihm sagen, daß Sie am Wagen auf ihn warten. Danach müssen Sie nichts weiter tun, als sich bis zum Eintreffen der erwarteten Hilfe verborgen zu halten.«
»Eine Sache noch«, fügte sie hinzu, während gerade Jess den Raum betrat. »Falls Sie sich entscheiden sollten, die Polizei anzurufen, vergessen Sie bitte nicht zu erwähnen, daß Sie nicht im Wagen sitzen, sondern sich in seiner Nähe aufhalten werden. Tun Sie uns den Gefallen, nicht einfach unangekündigt hinter einem Busch hervorzuspringen, wenn wir dort ankommen.«
»Wieso denn nicht?« fragte Sara - die auch unter den Teilnehmerinnen war - mit einem herausfordernden Lächeln in Richtung Jess.
»Weil wir uns sonst vor Angst in die Hosen machen«, erwiderte Jess trocken.
Alle lachten, aber Sloan hatte einen ganz anderen Eindruck von dem scheinbar harmlosen Wortwechsel zwischen Sara und Jess. Sara, die sonst immer zu allen Menschen nett und freundlich war, hatte Jess mit ihrer Frage offensichtlich dazu zwingen wollen, vor einer Horde Frauen zuzugeben, daß auch er Angst haben konnte. Sloan wußte das genauso sicher, wie sie wußte, daß Jess, der Witze - und Frauen - niemals ernst nahm, Sara ihren Spott verübelte. Die beiden zählten zu den attraktivsten und nettesten Einwohnern von Bell Harbor. Und sie konnten einander nicht ausstehen. Sloan mochte beide sehr und sah es nur ungern, daß sie sich nicht vertrugen. Die unterschwellige Feindseligkeit, die schon lange zwischen ihnen herrschte, war eben für einen Moment an die Oberfläche gekommen.
Sloan schloß ihre erste Unterrichtsstunde ab, indem sie ihre Schülerinnen darauf hinwies, daß sie ihnen beim nächsten Mal ein paar konkrete Selbstverteidigungsübungen zeigen würde und sie dafür bequeme Kleidung mitbringen sollten; dann schaltete sie den Fernseher ab und nahm die Videocassette aus dem Recorder. Sie hatte vollständig vergessen, daß an diesem Tag Carter Reynolds aus dem Dunkel der Vergangenheit aufgetaucht war.
Leider kam die Erinnerung daran zurück, sobald sie mit Sara allein war.
6
»ich kann nicht glauben, daß Carter Reynolds dein Vater ist!« stieß Sara aufgeregt hervor, sobald sich die schweren Türen des Rathauses hinter ihnen geschlossen hatten. »Ich kann es einfach nicht glauben«, wiederholte sie und dachte dabei unwillkürlich an all das, was sie im Boulevardteil der lokalen Tageszeitung über ihn gelesen hatte.
»Ich konnte es ja selbst nie glauben«, sagte Sloan mit einem wehmütigen Lächeln. »Eigentlich hatte ich auch nie Grund dazu«, fügte sie hinzu, während sie über den Parkplatz auf ihren Wagen zuging.
Sara hatte ihr kaum zugehört; sie war zu
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