Farlander - Der Pfad des Kriegers - Buchanan, C: Farlander - Der Pfad des Kriegers - Farlander
stellte er überrascht fest, dass er seine Familie überhaupt nicht vermisste – und auch nicht das Leben in Luxus, das er hinter sich gelassen hatte.
Ché war schon immer ein schneller Lerner gewesen, und daher machte er auch als Lehrjunge der Mörderzunft rasche Fortschritte. Er gewann Freunde mit großer Leichtigkeit und war sorgsam darauf bedacht, sich keine Feinde zu machen. Doch trotz alledem war er ein normaler Jugendlicher, dem nicht wohl in seiner Haut war.
Nachts lag er in seinem Bett im Schlafsaal, in dem sich alle Lehrjungen befanden, und träumte die Träume eines anderen.
Er träumte davon, ein völlig anderes Leben gelebt zu haben – ein Leben, in dem seine Mutter und sein Vater nicht seine wirklichen Eltern und ihr Haus nicht sein wirkliches Heim waren. Diese Traumvisionen waren so real und so sehr auf Tatsachen und Einzelheiten gegründet, dass er manchmal morgens erwachte und ein Gefühl
der Fremdheit vor sich selbst empfand. Er quälte sich damit ab, herauszufinden, was Wirklichkeit und was bloßer Selbstbetrug war. Manchmal befürchtete Ché insgeheim, dass er den Verstand verlor.
Als die Jahre fortschritten, tat er sein Bestes, sich zusammenzureißen. Er behielt diese Träume von einer anderen Existenz für sich.
Allmählich wurde er erwachsen. Er wurde zu einem Rō̄schun.
Damals war es ihm wie jeder andere Tag erschienen, aber es war der Abend vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag gewesen, was Ché allerdings herzlich wenig bedeutete.
Sein Meister Schebec hatte die Tage wie immer durcheinandergebracht und geglaubt, es wäre schon Chés Geburtstag. Schebec hatte viel Aufhebens um das Backen eines Honigkuchens mit unzähligen Nüssen gemacht und sich dann mit Ché zusammengesetzt und ein wenig Wein mit ihm getrunken. Ché hatte nicht den Mut besessen, den Irrtum seines Meisters zu berichtigen, aber als er sich zu seinem Bett zurückzog, hatte Ché ein wachsendes, undefinierbares Gefühl des Unbehagens verspürt.
In jener Nacht hatte er zum ersten Mal seit seiner Ankunft im Kloster gar nichts geträumt. Er schlief tief, ohne sich andauernd herumzuwälzen und in der Finsternis zu murmeln und erwachte am Morgen seines tatsächlichen Geburtstages mit der Erkenntnis, dass er nicht mehr er selbst war.
Plötzlich, als ob er durch ein Fenster schaute, das zum ersten Mal geöffnet worden war und einen Ausblick enthüllte, der unbemerkt schon immer vor ihm gelegen hatte, wusste er die Wahrheit über sein Leben. In der Abgeschiedenheit seiner kleinen, sauberen Zelle schüttelte sich Ché im frühen Morgenlicht, das durch die Ritzen in den Läden drang, unter bitterem Lachen, und Tränen der Erleichterung, der Verzweiflung und des Verlustes quollen in ihm hoch.
Er verabschiedete sich nicht von seinem Meister. Er bekämpfte den Drang, Schebec aufzusuchen und ihm wenigstens ein angedeutetes Zeichen des Lebewohls zu geben, ein Lächeln vielleicht. Er befürchtete, der alte Mann könnte seine Absichten erkennen. Ché verließ das Kloster durch das Tor, als der Rest des Ordens allmählich erwachte, und ließ alles zurück, was ihm gehörte, mit Ausnahme eines Reisesacks, den er mit getrockneten Früchten vollgestopft hatte.
Er stieg nicht das Tal hinab, sondern durchquerte es. Ein massiger Berg mit grauen Hängen, den sie den Alten Mann nannten, erhob sich über einem gewundenen Seitental, das von einem gurgelnden Bach tief eingeschnitten worden war. Im Morgendämmerschein erkletterte Ché die steile Schieferflanke des Alten Mannes. Ché wusste, wo sich der nächste Rō̄schun-Wächter in seinem verborgenen Ausguck befand und den Pfad unter ihm beobachtete, und er schlug einen Weg ein, der ihn hinter diesem Wächter entlangführte. Als Ché den Gipfel erreicht hatte, warf er einen Blick zurück auf das Kloster von Sato und spürte Verwirrung in seinem Herzen.
Dann drehte sich Ché um und stieg auf der anderen Seite hinunter.
In den folgenden Tagen musste er viele Hochpässe erklettern. Er wanderte auf den Pfaden der Bergziegen und folgte den getrampelten Wegen, anstatt querfeldein über die Felsklippen zu laufen, die manchmal unvermittelt in die Tiefe abfielen. Immer suchte sich Ché Routen aus, die allmählich abwärts führten. Sein gewundener Weg glich zielstrebigem Wasser, das unbeirrt dem Meer zufließt, und führte ihn allmählich aus den Bergen heraus.
Als er endlich auch das Vorgebirge hinter sich gelassen hatte und am Meer angekommen war, war er abgerissen und beinahe verhungert.
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