Farlander - Der Pfad des Kriegers - Buchanan, C: Farlander - Der Pfad des Kriegers - Farlander
in der Vorstadt auch nicht.
Was Ché plötzlich an jenem Morgen seines einundzwanzigsten Geburtstages im Kloster entdeckt hatte, war dies: Jede Erinnerung, die er an sein Leben vor der Verbannung nach Cheem gehabt hatte, war ein Schwindel gewesen. Sie waren ihm allesamt eingepflanzt worden, damit der jüngere Ché sie als real ansah.
Als er an jenem Morgen erwacht war, hatte er das recht schnell erkannt. Auf irgendeine Weise war seinem Geist befohlen worden, dies genau an seinem einundzwanzigsten
Geburtstag zu begreifen. Wie eine Sturmflut hatten seine wahren Erinnerungen die Grundmauern seines falschen Lebens unterspült und sie mit sich gerissen wie nutzloses Treibgut. Plötzlich war Ché klargeworden, dass er gar kein Spross einer reichen Kaufmannsfamilie war. Er war bloß ein Bastard; sein Vater war unbekannt, und seine Mutter war eine ergebene Sentiatin aus einem der vielen Liebeskulte, die innerhalb des mhannischen Ordens gegründet worden waren, in dem Ché ursprünglich als Akolyt erzogen und ausgebildet worden war – als werdender Priester.
Als die Sturmflut der Erinnerung über ihn hereingebrochen war, hatte er zitternd und atemlos dagelegen und nur noch ein einziges Ziel gekannt, an das er sich krampfhaft geklammert hatte: Er musste Cheem verlassen und nach Q’os zurückkehren.
Erst bei seiner Rückkehr in die Hauptstadt war ihm deutlich geworden, was man ihm angetan hatte. Das Reich hatte ihn für seine Zwecke eingesetzt. Es fürchtete die Rō̄schun und hatte es schon vor vielen Jahren als klug erachtet, einen ihrer eigenen Novizen zu ihnen zu schicken, damit er in ihrem geheimen Mörderorden ausgebildet wurde in der Hoffnung, durch ihn nicht nur Informationen über ihre Methoden und Geheimnisse, sondern auch über ihren Aufenthaltsort zu erfahren, falls das Reich den Orden jemals wieder bekämpfen musste.
Für diese Aufgabe war Ché aufgrund eines Auswahlverfahrens bestimmt worden, das ihm unbekannt war. Vielleicht war es auch nur ein Zufallsentscheid gewesen.
Möglicherweise hatte er sich als geeignet für diese Arbeit erwiesen. Mehrere Monde lang hatte man sein dreizehnjähriges Selbst einem harten Prozess geistiger Manipulation unterworfen und ihm abstumpfende Drogen verabreicht, während man ihn um seinen jungen Verstand geredet, wichtige Erinnerungen unterdrückt und andere eingepflanzt und gestärkt hatte.
Natürlich hatten diese Enthüllungen Ché bis in sein Innerstes erschüttert. Er hatte keine Zeit gehabt, nach seiner Rückkehr wieder Boden unter den Füßen zu bekommen oder sich seiner eigenen wahren Identität zu versichern. Die Regulatoren hatten Ché einen ganzen Mond lang befragt und dabei Wahrheitsdrogen und Hypnose benutzt, um ihm auch die kleinsten Einzelheiten zu entlocken. Als er sie zufriedengestellt hatte und alles aus ihm herausgeholt war, wurde angeordnet, dass er die Kuppen beider kleinen Finger verlieren musste und damit in den Orden von Mhann aufgenommen wurde. Und man wäre höchst erfreut, wenn er seine Berufung als Mörder weiterverfolgte – natürlich nicht als Rō̄schun, sondern als einer der ihren.
In dieser Hinsicht hatten sie ihm keine Wahl gelassen.
»Wasser?«, fragte seine Mutter und durchquerte den Raum mit dem Glas in der ausgestreckten Hand.
Ché nahm es entgegen. Er trank es in einem Zug leer, saß einfach nur da und genoss den Geschmack im Mund.
Doch die Welt dringt auch in die Augenblicke der Stille ein.
Ich muss herausfinden, warum sie mich heute hierhergeschickt
haben, um die Ermordung meiner eigenen Mutter vorzutäuschen. Gütige Erēs! Man sehe sich diese hohlköpfige Hure doch einmal an! In ihrer anbetungsvollen Hingabe glaubt sie, dass die anderen bloß ihre Spielchen mit uns treiben .
Für einen Augenblick wollte er sie packen und ihren schlanken Körper durchschütteln, sie dann hart und heftig ohrfeigen, immer wieder, bis sie endlich aufwachte und erkannte, welches Leben sie beide führen mussten.
Doch stattdessen räusperte sich Ché. »Wie geht es dir?«, fragte er.
»Hm? Oh, es geht mir gut, danke.« Nun saß sie vor ihrem Spiegel und bürstete ihre langen goldenen Locken mit einem feinzahnigen Kamm, der aus einem Knochen hergestellt war. Ihr Haar war der Luxus ihrer Berufung zur Sentiatin. Sie hielt inne und schaute Chés Spiegelbild an. »Wirklich, es geht mir gut. Es war eine gute Saison, mit dem Fest und alldem.« Als ihr Kamm gegen einen widerspenstigen Knoten stieß, hielt sie eine Faustvoll blonder Haare hoch und zog sanft
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