Farlander - Der Pfad des Kriegers - Buchanan, C: Farlander - Der Pfad des Kriegers - Farlander
sonst sehen oder hören kann .
Reese konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt diesen Raum betreten hatte. Sie hatte nicht gewusst, was sie mit ihm machen sollte, nachdem Nico weggelaufen war und in der Stadt gelebt hatte. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn so lassen sollte, wie er war, in der Hoffnung, er möge eines Tages zu ihr zurückkommen, wenn auch nur zu einem kurzen Besuch, oder ob sie sich der grausameren Wirklichkeit stellen sollte, die Loos ihr einzureden versucht hatte, seit Nico mit dem Farlander davongezogen war – und die nun offenbar auch durch ihre Träume angedeutet wurde –, nämlich dass ihr einziger Sohn für immer fortgegangen war.
Das Zimmer war kahl; es fehlte mehr als nur Nicos Habseligkeiten. So sauber und aufgeräumt war es nie gewesen, als Nico noch hier gelebt hatte, auch wenn er zugegebenermaßen recht ordentlich gewesen war. Einige seiner Sachen befanden sich noch hier: auf dem Fensterbrett lag seine Vogelpfeife aus Blech, die er vor langer Zeit verloren und die sie nach seinem Weggang wiedergefunden hatte; daneben lagen einige glatte, gefleckte Kiesel aus einem Flussbett; seine Angelausrüstung lehnte in der Ecke, eingewickelt in ein Leinwandtuch. Das Bett war gemacht, so wie Nico es vor langer Zeit zurückgelassen hatte; die Ecken der Laken waren unter die Strohmatratze gesteckt und über das Kissen gezogen.
Als sie sich lange und eingehend umsah, bemerkte sie jedoch, dass sich überall Staub angesammelt hatte.
Reese eilte hinaus, füllte einen Eimer mit Wasser und Essig, kehrte in das Zimmer ihres Sohnes zurück und putzte es gründlich. Sie arbeitete, bis ihr der Schweiß auf der Stirn stand und die Sonne über die Baumwipfel gestiegen und hinter dem schlierigen Fensterglas sichtbar geworden war. Immer wieder wollte sie weinen und arbeitete noch härter, bis der Drang nachließ. Ihre Knie schmerzten, während sie die knarrenden Bodendielen schrubbte; ihr Rücken beschwerte sich, als sie sich nach den Balken der niedrigen Decke streckte. Das Staubwischen sparte sie sich bis zum Schluss auf. Als sie dazu Nicos Habseligkeiten anheben musste, stellte sie diese danach an genau dieselbe Stelle, an der sie vorher gestanden hatten.
Zum Schluss richtete sich Reese auf und schob sich mit dem Handrücken die feuchten Locken aus dem Gesicht. Mit prüfendem Blick betrachtete sie die gewienerten Oberflächen und war zufrieden, dass das Zimmer nun richtig sauber war.
Ihr gegenüber lag das Fenster, strahlend hell vom Sonnenlicht.
Reese öffnete es, trat zurück und faltete die Hände, als ob sie erwartete, dass jemand oder etwas durch es hereinkam. Es verging ein Augenblick, und eine plötzliche Brise blies in den Raum. Reese atmete lange und tief ein, während die Morgenluft ihr Gesicht liebkoste und ihre Lunge mit der hellen Welt jenseits der Hütte füllte.
»Mein Sohn«, flüsterte sie und konnte sich nicht erklären, warum nun Tränen an ihrem Gesicht herunterliefen.
Ein Körper lag nackt auf dem Marmoraltar; seine Arme waren vor der Brust gefaltet. Die Augen waren geschlossen.
Der Leichnam war von den mürrischen, schweigenden Priestern des Mortarus, der geheimnisvollen Todesabteilung des mhannischen Ordens, rituell gereinigt worden. Eine Stunde lang hatten sie den Körper mit Leinentüchern abgerieben, die mit der Galle lebendiger Sandaale gebleicht worden waren. Es war dieselbe Gallenflüssigkeit, mit der auch die Priesterroben, die steifen Masken und die Fahnen von Mhann gebleicht wurden, die an den hohen Wänden oberhalb der Priester hingen. In der Stille des Tempels waren die hellen Tücher in eine Schale mit blutwarmem Wasser getaucht worden, unter dessen Kräuselungen die frischen Blütenblätter am Rand entlangtrieben. Dann waren die Tücher wieder herausgenommen und mit den Händen beinahe trocken gewrungen worden. Unter dem Zischen ritueller Worte hatten die Priester die Tücher über die leblose Haut gezogen.
Als diese Arbeit vollendet war und die Priester des Mortarus in einer schlurfenden Prozession aus Gesängen und raschelnden Roben weggegangen waren, blieb ein Duft nach wildem Lotos bei dem Leichnam zurück, dessen große Halswunde vernäht worden und dank der
geschickten Anwendung von Puder und Leim nur noch als dünne schwarze Linie sichtbar war. Doch den Gesichtsausdruck der Leiche hatten sie nicht verändern können.
Genau das war es, was Sascheen am schwersten ertrug.
»Wie lauten Eure Befehle, Matriarchin?«, fragte eine leise Stimme
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