Farmer, Philip Jose - Flusswelt 03
ich denke, ist nicht der gleiche, den Nietzsche meint. Der wahre Übermensch ist derjenige, der es schafft, sich von allen Neurosen, Psychosen und Vorurteilen zu befreien, dem seine tatsächlichen Möglichkeiten als menschliches Wesen bewußt werden und auf der Basis der Freundschaft, Hilfsbereitschaft und Liebe lebt, anstatt der Herde zu folgen. Nehmen Sie Nietzsches Konzept des Übermenschen, wie es sich in Jack Londons Roman Der Seewolf präsentiert…«
Peter machte eine Pause und fragte dann: »Kennen Sie den Roman?«
Farrington grinste. »Ich habe ihn mehr als nur einmal gelesen. Was halten Sie von Wolf Larsen?«
»Ich glaube, er war eher Jack Londons Übermensch als der von Nietzsche. Er entsprach der Vorstellung, die London von einem Übermenschen hatte. Nietzsche wäre vor Larsens Brutalität entsetzt zurückgewichen. Schließlich ließ London ihn an einem Gehirntumor sterben. Ich nehme an, daß er seinen Lesern damit zeigen wollte, daß mit Larsens Übermenschentum etwas nicht stimmte. Wenn meine Annahme stimmt, so ist das zumindest den meisten Literaturkritikern entgangen. Sie haben die Ursache von Larsens Tod niemals kapiert. Gleichzeitig glaube ich, daß London uns ebenfalls gezeigt hat, daß der Mensch – und sogar der Übermensch – seine Wurzeln in der animalischen Natur hat, im Wesen des Tiers. Er ist ein Teil der Natur, und wie groß seine geistigen Fähigkeiten auch sein mögen: er kann den physischen Tatsachen nicht entrinnen. Er ist ein Tier, und deswegen anfällig für Krankheiten wie die eines Gehirntumors. Seht, wie die Mächt’gen untergehn. Aber ich glaube auch, daß Wolf Larsen in gewisser Beziehung den Charakter verkörperte, der Jack London gerne gewesen wäre. London lebte in einer brutalen Umwelt; er hatte keinen anderen Gedanken als den, daß er stark sein müsse, um nicht unterzugehen. Aber er hatte auch Gefühle, er wußte, daß er zu den Menschen des Abgrunds gehörte. Er glaubte, daß die Massen sich nur dadurch aus dem Elend herauszerren könnten, indem sie den Sozialismus praktizierten. Er hat sein ganzes Leben lang gekämpft und war zu gleicher Zeit ein ausgesprochener Individualist. Was ihn natürlich in bezug auf den Sozialismus in Schwierigkeiten brachte, wodurch er schließlich seinen Glauben an die Sache verlor. Er war keine Emma Goldman. Seine Tochter Joan hat ihn übrigens deswegen später in einer Studie über sein Leben kritisiert.«
»Das wußte ich gar nicht«, sagte Farrington. »Offenbar hat sie das erst nach meinem Tod geschrieben. Wissen Sie mehr über sie? Was wurde nach Londons Tod aus ihr – und wann ist sie selbst gestorben?«
»Ich kannte mal einen Mann, der nicht nur London-Spezialist war, sondern auch mit ihr Kontakt hatte«, erwiderte Peter.
In Wirklichkeit hatte sein Bekannter mit Joan London lediglich einige Briefe gewechselt und sie einmal ganz kurz getroffen. Peter hatte allerdings keine Lust, dies zu offenbaren; möglicherweise kostete ihn das seinen Job auf dem Schiff.
»Sie war aktive Sozialistin und starb 1971, glaube ich. Das Buch, das sie über ihren Vater schrieb, galt als ausgesprochen objektiv, wenn man bedenkt, daß London ihre Mutter verließ, um eine jüngere Frau zu heiraten. – Jedenfalls glaube ich, daß London gerne Wolf Larsen gewesen wäre, weil ihm das die Möglichkeit gegeben hätte, sich gegen die Schmarotzer zur Wehr zu setzen, die ihm das Leben zur Hölle machten. Ein Mann, der sich nicht um die Schicksale anderer schert, kann selbst auch kaum verletzt werden. Zumindest glaubte er das, obwohl das Gegenteil der Fall ist.
London mag das erkannt haben und hat tatsächlich versucht, diesen Gedanken von sich abzuschütteln, aber gleichzeitig wünschte er sich, ein Wolf Larsen zu sein, selbst wenn das bedeutete, innerlich zu erkalten und zu einer brutalen Bestie zu werden. Schriftsteller haben nun einmal die gleichen Widersprüche mit sich auszufechten wie andere Leute auch. Das ist auch der Grund, weswegen gute Autoren selbst dann noch eine enigmatische Aura haben, wenn die Kritiker mit ihnen fertig sind. Sind die Himmel verhangen und die Meere ausgetrocknet, der Mensch wird das letzte Geheimnis bleiben.«
»Das gefällt mir!« rief Farrington aus. »Von wem ist das?«
»E. E. Cummings«, sagte Peter. »Eine andere Zeile von ihm, die zu meinen bevorzugten gehört, lautet: Hör zu! Direkt nebenan existiert ein verdammt gutes Universum… Laß uns da hingehen!«
Peter befürchtete bereits, etwas zu dick aufgetragen zu
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