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Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling

Titel: Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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solltest du das Fruchtholz nicht zu lang stehenlassen, Max.«
     
    *
     
    Nach zwanzig Kilometern Fahrt wendet der Wagen und hält am Straßenrand. Es ist kurz vor elf Uhr. Der Motor verstummt, die Scheinwerfer gehen aus. Im Hintergrund stehen schwarz die Dächer eines Dorfes, davor ein Ortsschild, auf dem im Dunkeln kaum lesbar »Sissach« steht. Zwei Seitentäler weiter westlich liegen Marie Stifter und Ernst Walder grollend in ihren Betten.
    Für eine Minute oder zwei geht im Auto die Deckenlampe an, dann ist es wieder dunkel. Hin und wieder beleuchten die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Wagens den Innenraum des Ford; dann ducken sich Sandweg und Velte unters Armaturenbrett. Der Motor kühlt aus, das Blech des Auspuffs klinkert. Einmal noch kurbelt der Beifahrer das Seitenfenster herunter und wirft ein Stück Schinkenschwarte und acht Feigenstiele hinaus, die die Polizei am nächsten Tag finden wird. Dann ist es still.
    Noch vor dem Morgengrauen krähen im Dorf die Hähne. Während die Knechte den Stall ausmisten, die Mägde den Herd einheizen und die Bauern die Milch in die Käserei bringen, fährt der blaue Ford zurück nach Basel. Eine halbe Stunde später fällt das Auto einem Straßenbahnfahrer auf, da der Lenker offensichtlich nicht ortskundig ist. Der Polizei wird er später sagen, der Wagen sei um 7.52 Uhr von der Dufourstraße in die Aeschenvorstadt eingebogen. Genau um 7.52 Uhr? Der Straßenbahnfahrer ist beleidigt. Er fährt jeden Tag fahrplangemäß um 7.52 Uhr über den Aeschenplatz, deshalb weiß er das so präzis. Am Heckfenster des Ford habe sich übrigens ein zweiter Insasse mit bleichem Gesicht und grünen Augen gezeigt. Grüne Augen? Hat er die erkennen können, auf diese Distanz und durch zwei Scheiben hindurch? Der Straßenbahnfahrer ist noch mal beleidigt. »Wenn ich grüne Augen gesehen habe, habe ich grüne Augen gesehen.«
     
    *
     
    In Basel gibt es am fünften Januar 1934 zweiundsechzig Bankhäuser. Sie alle öffnen ihre Schalter täglich um Punkt acht Uhr. Wenn die Glocken vom Münster schlagen, machen sich in der ganzen Stadt gleichzeitig zweiundsechzig Banklehrlinge mit Schlüsseln an den Haupteingängen zu schaffen. Das Aufschließen am Morgen ist Sache der Lehrlinge, das Abschließen am Abend – weil ungleich verantwortungsvoller – Sache der Chefs.
    In der Wever-Bank an der Elisabethenstraße waltet der achtzehnjährige Banklehrling Werner Siegrist seines Amtes, das er seit Beginn des dritten Lehrjahres innehat. Dann bringt er die Schlüssel zurück zum Prokuristen und Ersten Kassier Jacques Beutter.
    »Danke, Siegrist. Haitz, Sie können jetzt die Post holen.«
    Wilhelm Haitz ist im zweiten Lehrjahr und zuständig für die Botengänge zur Hauptpost. Das hat Siegrist hinter sich; er setzt sich an sein Pult, nimmt die Staubschutzhülle von seiner Underwood und fängt an, Wertschriftenauszüge zu tippen. Lehrling Haitz nimmt den Handkarren und zieht los.
    Wilhelm Haitz liebt diese Ausflüge zur Hauptpost, die er dreimal täglich unternimmt. Das ist dreimal am Tag eine halbe Stunde Freiheit und frische Luft. Dreimal den Büromädchen auf die Beine schauen, die sich zu jeder Tageszeit in Scharen auf der Hauptpost tummeln. Dreimal im Vorbeigehen die Kinoplakate studieren, unbeobachtet eine Zigarette rauchen, mit den Lehrlingen vom Bankverein und von der Kreditanstalt ein Schwätzchen halten. Wobei zu sagen ist, dass der Hinweg angenehmer ist als der Rückweg; die Strecke selbst ist zwar dieselbe, aber erstens geht es zur Post bergab, und zweitens ist dann der Handkarren noch leer. Im Sommer kann man schon ins Schwitzen geraten auf dem Rückweg, wenn der Karren überquillt und es endlos aufwärtsgeht, die Freie Straße hoch und dann weiter durch die Elisabethenstraße bis fast zum Elisabethenpark. Im Juli geht’s noch, dann ist der Geschäftsgang flau, der Posteingang mager und der Karren halb leer. Aber im Juni und in der zweiten Hälfte August! Es müsste umgekehrt sein, wie so oft im Leben: Die Bank müsste unten sein und die Post oben. Dann könnte man den leeren Handkarren den Berg hochziehen und den vollen einfach hinunterrollen lassen. Oder man müsste das ganze Gelände kippen können bei Bedarf, hinunter zur Post laufen, Gelände kippen, hinunter zur Bank zurücklaufen. Gerade im Großen Schnee vom vorvorletzten Winter wäre das praktisch gewesen, als die Freie Straße eine einzige Langlaufloipe war …
    So geht Wilhelm Haitz sinnend seines Weges, leert das Postfach, holt

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