Fast ein bisschen Frühling - Capus, A: Fast ein bisschen Frühling
hinein, um Vollenweider zu helfen. Das aber ist ein Fehler. Denn erstens sucht Schausteller und Hausierer Friedrich Seitz nun ungehindert das Weite, und zweitens kehrt Nafzger, als er ins Zimmer tritt, dem bei der Tür stehenden zweiten Verdächtigen den Rücken zu. Das verstößt gegen eine Grundregel bei Personenkontrollen: Verdächtige Individuen niemals aus den Augen lassen. Drei Schüsse gibt Waldemar Velte auf Nafzger ab und trifft ihn in Kopf, Rücken und Oberschenkel. Der Polizeimann taumelt zurück und stürzt an der Wirtin vorbei die Treppe hinunter, während Velte die übrigen Kugeln auf Vollenweiders breiten Rücken abfeuert.
Vollenweider ist sofort tot und liegt schwer auf Sandweg. Der kann erst aufstehen, als Velte die Leiche von ihm hinunterschiebt. Der Detektivkorporal schlägt mit dem Kopf gegen die Wand, seine Melone wird eingedrückt, die Beine ragen über die Bettkante hinaus ins Zimmer und zucken noch ein paarmal.
Polizeimann Nafzger ist auf der Straße angelangt. Sein Mund füllt sich mit Blut, vor den Augen wird ihm schwarz. An der Ecke zur Hammerstraße steht das Wirtshaus »Zum Goldenen Fass«, da will er sich einen Augenblick auf die Treppe setzen und ausruhen. Das Blut im Mund hindert ihn am Atmen. Er öffnet die Lippen und lässt es über Kinn und Uniform strömen.
»He! Wachtmeister! Sie bluten ja!«
Nafzger macht die Augen einen Spalt weit auf. Vor ihm steht ein kleines Männchen, ein Arbeiter, dem abgetragenen Anzug und den schlechten Zähnen nach zu urteilen. Der soll ihn in Ruhe lassen. Nafzger ist müde. »Wachtmeister! Wachtmeister!«
Nafzger reißt sich zusammen. Um das Männchen loszuwerden, deutet er nach der Sperrstraße. »Revolver, die zwei, Revolver!«
Das Männchen – es heißt Friedrich Zwahlen, ist zweiundvierzig Jahre alt und von Beruf Fliesenleger – dreht sich um und sieht gerade noch, wie zwei junge Männer im Nebel verschwinden. Einen Augenblick zögert Zwahlen, ob er sich um den Polizisten kümmern oder die Verfolgung aufnehmen soll. Dann behält der Jagdinstinkt die Oberhand über den Helfertrieb. Er lässt Nafzger liegen, läuft durch die Sperrstraße und biegt in den Riehenring ein, er ruft und schimpft und verlangt von aller Welt, dass sie sich an seiner Jagd beteilige, und dabei geht ihm die Luft aus. Schon fürchtet er, dass ihm seine Beute entwischt sei. Aber da kommen ihm an der Ecke Amerbachstraße zwei Burschen entgegen. Gutangezogene junge Burschen. Zwahlen bleibt stehen, atmet tief durch, breitet die Arme aus und versperrt so den Gehsteig.
»Halt, meine Herren!«
Die Burschen bleiben stehen.
»Was wollen Sie?« fragt der Größere und lächelt auf eine Art, die Zwahlen nicht gefällt. Er überlegt, was er auf die unverschämte Frage antworten soll; aber alles Überlegen vergeht ihm, als der lächelnde Bursche einen Revolver aus der Manteltasche zieht. Zwahlen erschrickt. Und dabei ahnt er nicht, welches Glück er hat, dass der kleine Bursche seine Pistole schon in der Pension der Hedwig Vetter leergeschossen hat.
»Los!« schreit der Kleine. Der Große drückt ab. Es gibt einen Knall, und Zwahlen liegt auf dem Gehsteig.
Fünf Minuten später lehnt er atemlos an einer Hauswand, umringt von Neugierigen. Einer zückt den Notizblock und spricht ihn an. Er ist Reporter bei der »National-Zeitung«, jung und ehrgeizig, mit flinken Nagetieraugen und gelben Raucherzähnen, und im Hutband steckt tatsächlich eine Karte, auf der in fetten Lettern »Presse« steht. Stoßweise gibt Zwahlen Auskunft, und genau so steht es tags darauf auch in der Zeitung.
»Geistesgegenwärtig schnellte ich mit dem Kopf zur Seite und erhielt einen Streifschuss aus 2 Meter Distanz. Ich tat jedoch, als ob ich schwer getroffen wäre, und ließ mich zu Boden sinken. Das war meine Rettung: Die Verbrecher glaubten offenbar, mich erledigt zu haben, und setzten ihre Flucht durch die Amerbachstraße fort.«
Eines aber verschweigt Zwahlen dem jungen Reporter. In der polizeilichen Befragung wird er sich erinnern, dass nach dem Schuss nur der kleine Räuber weglief. Der große aber sei stehengeblieben, habe auf ihn heruntergesehen mit gebleckten Zähnen und den Pistolenlauf auf dessen Kopf gerichtet. Zwahlens Schusswunde an der rechten Wange war alles andere als lebensbedrohlich, das war auf den ersten Blick ersichtlich. Auch wenn eindrücklich viel Blut floss, so sah es doch eher nach einem Schnitt mit dem Rasiermesser aus.
»Der große Räuber schimpfte mich einen
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