Fast genial
her.
Draußen dunkelte es, bald würde es Abendessen geben.
Im Hintergrund lief noch immer ihr Lieblingsalbum - Funeral von
Arcade Fire. Als der letzte Song verklungen war, griff Francis nach seiner
Jacke. Er war schon an der Tür, da hörte er, wie Anne-May in seinem Rücken
sagte: „Er hat mich doch vergewaltigt.“
Sie erzählte, wie sie von Anfang an eine besondere
Beziehung zu ihrem Vater gehabt habe. Dass er sie zum Klavierspielen gebracht
habe und immer für sie da gewesen sei. „Er ist oft sehr spät aus dem Büro
gekommen. Aber ich habe jedes Mal auf ihn gewartet, um ihm gute Nacht zu sagen.
Und einmal, da war ich vierzehn, ist er besonders lange weg gewesen. Als er
wiederkam, war es schon nach Mitternacht. Er roch nach Alkohol, wahrscheinlich
war er mit seinen Kollegen in einer Bar. Ich hatte nur meine Unterwäsche an und
wollte ihm noch gute Nacht wünschen. Da ist mir aufgefallen, dass er mich so
komisch angesehen hat. Ab da habe ich es geahnt. Ich habe versucht, ihm aus dem
Weg zu gehen, aber...“ Anne-May machte eine Pause und fuhr mit ihren Fingern
die Kante eines Buches entlang. „Willst du wissen, was mich am meisten
ankotzt?“ Francis sah sie fragend an.
„Dass ich mich nicht gewehrt habe“, sagte sie. „Er
konnte machen, was er wollte, ich hab nur geflennt, und er hat immer
weitergemacht.“ Sie warf ihm einen so eiskalten Blick zu, dass Francis sofort
klar wurde, dass sie normalerweise nicht die Sorte Mädchen war, die sich nicht
wehrte.
„Weiß deine Mutter das alles?“
Anne-May lachte. Francis zuckte zusammen. Er mochte
es nicht, wenn Leute lachten, nachdem sie solche Dinge gesagt hatten. „Nein,
natürlich nicht“, meinte sie. „Das wäre ein Riesenskandal, mein Dad ist ein
renommierter Architekt, das stünde in allen Zeitungen. Niemand weiß es.“
Außer mir. Francis
fühlte sich bei diesem Gedanken unwohl.
„Und du?“, fragte sie. „Was ist eigentlich mit
deinem Vater? Ich hab ihn hier nie gesehen.“
„Ich kenne meinen Dad nicht. Vermutlich eine Affäre
meiner Mutter. Der Typ weiß bestimmt nicht mal, dass er ein Kind hat.“
„Findest du es schlimm, dass du ihn nie
kennengelernt hast?“
Francis zuckte mit den Schultern. Früher hatte es
ihn gestört, wenn die anderen Jungs aus der Klasse von ihren Vätern
erzählten, wie viele Gewichte sie stemmen konnten oder welche Jobs und Autos
sie hatten. Es war ihm immer peinlich gewesen, wenn herauskam, dass Ryan nicht
sein richtiger Dad war. Vor allem nach der Scheidung, als seine Mutter
angefangen hatte, mit all diesen Nieten ins Bett zu gehen. Seitdem fragte er
sich oft, wie wohl sein richtiger Vater war.
„Manchmal stelle ich mir vor, wie er plötzlich nach
der Schule auf dem Parkplatz steht und auf mich wartet, um mir alles zu
erklären“, sagte Francis. „Er steht einfach so da. Ich laufe nicht schnell auf
ihn zu, sondern ganz langsam, so dass ich ihn mir anschauen kann. Ich gehe
ganz bewusst, denke nach. Jeder Schritt für eine Erinnerung an ihn, die ich
nicht habe.“
„Das klingt ja irgendwie klug“, sagte Anne-May.
„Du siehst überrascht aus.“ Sie lächelte. „Ein
bisschen, ja.“
Francis tat, als wäre er empört. Dann dachte er
wieder an seinen Vater und wie er anfangs gehofft hatte, er wäre ein cooler,
erfolgreicher Typ, auf den er stolz sein könnte. Doch in letzter Zeit drängte
sich ihm eher das Bild eines Totalversagers auf, der seine Verlierer-Gene an
ihn weitergegeben hatte. Denn während sein Halbbruder Nicky nach seinem Vater
Ryan kam und klug, talentiert und gut in der Schule war, ging es mit ihm selbst
immer weiter bergab. Und daran hatte sein richtiger Dad bestimmt eine Mitschuld.
6
Am folgenden Tag waren im Schulbus alle Plätze von
lärmenden Kindern besetzt. Francis lehnte die Stirn gegen eine angenehm kühle
Seitenscheibe. Er war zwei Köpfe größer als der Rest, ältere Schüler gab es
kaum. Die meisten hatten ein Auto, Grover bekam von seinen Eltern sogar das
Geld fürs Benzin geschenkt. Er dagegen hatte nicht mal die Kohle für den
Führerschein. Auf der Fahrt setzte er sich Kopfhörer auf und hörte Songs von
Matisyahu und Eminem. Bei Eminem faszinierte ihn, dass er zwei völlig
verschiedene Leben gleichzeitig führte. Zum einen war er immer noch Marshall
Mathers, der Versager aus dem Trailerpark in Detroit, der mit einer
drogensüchtigen alleinerziehenden Mutter und - wie er - ohne Vater
aufgewachsen war. Und zum anderen war er Eminem, einer der
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