Faszinierend wie der Kuss des Herzogs
einem der vornehmeren Stadtteile. Edward stieß mit einer Stiefelspitze einen Abfallhaufen an. Von den Fassaden der alten Häuser bröckelte der Putz, hinter den Fenstern hörte er betrunkenes Gelächter, schrille Stimmen. Es roch nach fauligem Gemüse, billigem Grappa und Abwässern.
Die Straße lag weit entfernt vom Palazzo Picini. Von dieser Gegend hielten sich die reichen Touristen fern. Doch es war der einzige Ort, wo er vielleicht finden würde, was er suchte.
In seiner schwarzen Kleidung verschmolz er mit den Schatten, während er das halb verfallene Gemäuer auf der anderen Straßenseite musterte. Offenbar stand es leer. Aber es musste das Gebäude sein, das ihn interessierte. Und so wartete er, die Arme vor der Brust verschränkt. Bei seiner Arbeit war es nötig, sich mit Geduld zu wappnen. Das hatte er nach der wilden Impulsivität seiner Anfangsjahre gelernt.
Nur den Impuls, Clio Chase zu küssen, hatte er noch immer nicht überwunden …
Hinter einer zerbrochenen Fensterscheibe im oberen Stockwerk flackerte Licht. Also befand sich jemand da drinnen.
Auf Zehenspitzen überquerte Edward die Straße, zog einen Dolch aus der Scheide unter seinem Ärmel und schlich um das Haus herum, zum Hintereingang. Mit seiner Messerspitze öffnete er das altersschwache Türschloss.
Schale Luft erfüllte den dunklen Korridor. Hier hauste niemand außer ein paar Mäusen – ein perfekter Ort für ruchlose Aktivitäten. Was in diesen Mauern vorging, wussten alle Stadtbewohner, aber niemand würde darüber sprechen. Seit Jahrhunderten war die Grabräuberei ein beliebter Zeitvertreib, der Schlüssel zu illegal erworbenem Wohlstand.
Auch das würde sich ändern.
Lautlos stieg Edward eine schmale Treppe hinauf. Bei dem erleuchteten Raum blieb er nicht stehen, sondern schlich weiter nach oben, zu der kleinen Dachkammer, die sein Informant erwähnt hatte. Dort fand er eine Lücke in den Bodenbrettern, durch die er alles sehen und hören konnte, was in dem Zimmer darunter geschah. Aber sie würden ihn nicht sehen.
8. KAPITEL
Am nächsten Tag ging Clio nicht zu dem alten Bauernhaus. Stattdessen begleitete sie ihren Vater und die Schwestern zu den Ausgrabungen in der Villa. Nach einer schlaflosen Nacht fühlte sie sich erschöpft. Deshalb wollte sie sich nicht allein in der abgeschiedenen Ruine aufhalten, zumindest nicht, bis sie etwas mehr über die Absichten des Feindes wusste.
Sie setzte sich ans Ende eines teilweise freigelegten Bankettsaals und skizzierte den kunstvollen Mosaikboden. Zunächst zeichnete sie die Umrandung mit den Trauben, Feigen und Granatäpfeln, den üblichen griechischen Fruchtbarkeitssymbolen. Nach all den Jahrhunderten leuchteten die Farben immer noch. Die Borten umrahmten Szenen fröhlicher Feste. In purpurroten, blauen und weißen Roben rekelten sich die Gestalten auf niedrigen Sofas und genossen Fische, Geflügel, Weißbrot, Gebäck und Wein.
Nach einer Weile setzte sich ihr Vater zu ihr und begutachtete die Skizzen. Er sah müde aus, das Gesicht von der Sonne gerötet. Unter seinen Augen lagen violette Schatten, und Clio gewann den Eindruck, er habe trotz Rosas exzellenter Küche abgenommen. Vielleicht wäre es vorteilhaft, wenn er Lady Rushworth heiratete, die sicher gut für ihn sorgen würde.
„Wie exakt du die Proportionen der Mosaike triffst!“, lobte er.
„So begabt wie Cory bin ich nicht.“ Sie zeigte auf ihre Schwester, die in einem Pavillon aus Segeltuch saß und mit Wasserfarben arbeitete. „Was die künstlerische Ausdruckskraft betrifft, ist sie mir überlegen.“
„Mag sein. Sie erweckt diese Szenen zu neuem Leben. Neulich erklärte sie mir, wenn sie älter sei, würde sie gern nach Ägypten reisen, Pyramiden und Hieroglyphen malen.“
„Das würde ihr sicher gelingen.“
„Meine lieben Mädchen, ihr wart schon immer an der Kunst interessiert.“
„Dazu habt ihr uns angeregt, du und Mutter.“
„In der Tat. Aber manchmal frage ich mich …“ Seine Stimme erstarb, und er blickte zum fernen Ätna hinüber.
„Was fragst du dich, Vater?“
„Ob wir euch falsch erzogen haben. Wir hofften, ihr würdet lieben lernen, was wir liebten, die große Bedeutung der Geschichte und der Kunst erkennen und eigenständig denken.“
„Zweifellos tun wir das“, bemerkte sie lächelnd.
„Nun, vielleicht hätten wir uns realistischer verhalten und euch all die Dinge beibringen sollen, die junge Damen von eurem Stand beherrschen müssen. Allmählich fürchte ich, wir haben euch
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