Faszinierend wie der Kuss des Herzogs
Zettel in ihrer Hand. Dann schaute sie zu dem Haus auf. Es musste die richtige Adresse sein. Doch sie war sich nicht sicher. Wie die Residenz eines Contes sah es nicht aus.
Was sie erwartet hatte, wusste sie nicht genau. Einen weißen Barockpalast voller Stuckschnörkel und mit schmiedeeisernen Balkonen? Oder eine abweisende mittelalterliche Burg, von Efeu überwuchert? Gewiss nicht dieses hohe, schmale Haus in einem Stadtteil, der hauptsächlich von Ladenbesitzern bewohnt wurde, hinter den prächtigen Santa Lucia-Palazzos gelegen – respektabel, aber nicht grandios.
Nun stieg Marco in ihrer Achtung. Also war er doch kein Snob wie seine Freundin Lady Riverton. Doch das bedeutet keineswegs, dass ich ihn in Ruhe lasse, dachte Thalia. Sie war hierhergekommen, um ihm gewisse Fragen zu stellen. Und sie würde Antworten erhalten.
Sie zog die Kapuze ihres Umhangs tiefer ins Gesicht und blieb in den nächtlichen Schatten stehen. Mochten die Chase-Musen auch für ihren Wagemut bekannt sein, allein das Haus eines Mannes aufzusuchen – das traute man nicht einmal den kühnsten jungen Damen zu. Zum Glück zeigte sich keine Menschenseele auf der Straße. Wahrscheinlich zogen sich die ehrbaren Ladenbesitzer schon am frühen Abend zurück. Und hinter den Fenstern des Contes brannte kein Licht.
Vielleicht war er ausgegangen, und sie konnte in aller Ruhe in seinen Schreibtischschubladen nach geheimen Papieren und Briefen suchen. Irgendetwas musste sie entdecken – etwas, das auf den Aufenthaltsort ihrer Schwester hinwies.
Es sei denn – die beiden sind durchgebrannt … Gab es in Sizilien einen Ort, der sich mit Gretna Green vergleichen ließ?
Der Mann, den er der Welt präsentierte, war er nicht. Das wusste sie. Nein, keineswegs der charmante, weit gereiste, nicht allzu intelligente Aristokrat, der so gern tanzte und flirtete und für Kunstwerke schwärmte … Bei ihrem Gespräch mit Marco während des Maskenballs hatte sie das Feuer einer geheimen Leidenschaft in seinen Augen gelesen, messerscharfen Verstand, eine Intensität, die er zu verbergen suchte. Ohne jeden Zweifel verfolgte er in Santa Lucia noch ganz andere Interessen, als Partys zu besuchen.
Irgendetwas führte er im Schilde. Und er vertraute seiner Tarnung. Aber er rechnete nicht mit ihr .
Sie eilte in die stille Gasse hinter den Häusern und zählte sie, bis sie das richtige fand. Hinter einem Eisengeländer führten steinerne Stufen zur Küche hinab. Auch hier war kein Fenster erleuchtet. Anscheinend waren die Dienstboten ebenfalls fortgegangen. Oder vielleicht beschäftigte der Conte kein Personal, um seine mysteriösen Machenschaften besser zu vertuschen.
Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinab. Die Tür war unversperrt. Als sie hindurchspähte, sah sie Kisten mit Weinflaschen und Vorräten. Doch sie hörte kein Geräusch, tiefe Stille erfüllte das Haus. Niemand schien sich hier aufzuhalten. Im schwachen Licht, das durch die offene Tür hereinfiel, eilte sie durch die Küche zur Dienstbotentreppe.
Wie aufregend … Nun verstand sie, warum Missetäterinnen wie die Liliendiebin, die letztes Jahr in London zugeschlagen hatte, ihre illegalen Aktivitäten trotz der Gefahren fortsetzten. Plötzlich fühlte Thalia sich so lebendig, von Angst und freudiger Erregung gleichermaßen erfasst. Beinahe kam sie sich wie in einem spannenden Theaterstück vor, und ihr Herz pochte schneller. Was würde jetzt, in diesem realen Drama, geschehen?
Am Treppenabsatz stieß sie eine Tür auf und durchquerte einen Flur. Hinter zwei halb offenen Türen lagen ein Speiseraum und ein Salon, dunkel und schlicht eingerichtet. Sie stieg die Haupttreppe hinauf, in immer dunklere Regionen. Am Ende eines schmalen Korridors drang Licht unter einer Tür hervor. Doch sie hörte noch immer nichts – keine Stimmen, keine Geräusche, nur diese gespenstische Stille, wie in einem Gruselroman.
Mit einem tiefen Atemzug besänftigte sie ihre Nerven, stürmte zu der Tür und riss sie auf. Zunächst wagte sie nicht, in das Zimmer zu schauen, das Grauen zu sehen, das sie womöglich antreffen würde. Dann spähte sie in den Raum und sah – nun, nichts Besonderes.
Lampen und ein gemütliches Kaminfeuer beleuchteten ein kleines Schlafzimmer. Vor einem Fenster mit geschlossenen Vorhängen saß Marco di Fabrizzi an einem Schreibtisch voller Papiere und Bücher. Er trug einen Morgenmantel aus Brokat. Zerzaust hing das schwarze Haar in seine Stirn. Als er verblüfft aufblickte, griff er nach
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