Fata Morgana
noch toll. Geben vor ihren Freundinnen damit an. Aber eine strenge Strafe bringt sie zur Vernunft. Dann wird ihnen klar, dass sich das Spiel nicht lohnt. Gar keine Gefängnisstrafe wäre da noch besser. Umerziehung, konstruktive Neuorientierung, wie wir sie hier praktizieren –«
Miss Marple fiel ihm ins Wort. »Mr Serrocold«, sagte sie, »wie denken Sie eigentlich über den jungen Mr Lawson? Ist er – ist er ganz normal?«
Lewis Serrocold schaute beunruhigt drein. »Hoffentlich bekommt er keinen Rückfall. Was hat er denn gesagt?«
»Er hat mir gesagt, er sei der Sohn von Winston Churchill –«
»Natürlich – natürlich. Das Übliche. Wie Sie wahrscheinlich schon vermutet haben, ist er ein uneheliches Kind, der arme Kerl, und stammt aus sehr einfachen Verhältnissen. Er wurde mir von einem Verein in London anempfohlen. Er hatte auf der Straße einen Mann tätlich angegriffen, der ihm angeblich nachspionierte. Alles ganz typisch – Dr. Maverick wird Ihnen das auch sagen. Ich hab mir seine Fallgeschichte angesehen. Die Mutter gehörte der Unterschicht an, kam aber aus einer ordentlichen Familie in Plymouth. Der Vater war Seemann – sie kannte nicht einmal seinen Namen... Das Kind wuchs unter widrigsten Umständen auf. Er fing an, sich Phantasiegeschichten über seinen Vater und später auch über sich selbst auszudenken. Trug unbefugt Uniformen und Orden – alles ganz typisch. Aber Mavericks Prognose ist günstig. Vorausgesetzt, es gelingt uns, sein Selbstvertrauen aufzubauen. Ich habe ihm hier Verantwortung übertragen, habe ihm klarzumachen versucht, dass es nicht auf die Geburt ankommt, sondern darauf, was einer aus sich macht. Ich habe versucht, ihm Zutrauen zu seinen eigenen Fähigkeiten zu geben. Die Besserung war bemerkenswert. Ich hatte ein gutes Gefühl bei ihm. Aber wenn Sie jetzt sagen –« Er schüttelte den Kopf.
»Und eine Gefährdung würden Sie ausschließen, Mr Serrocold?«
»Gefährdung? Bis jetzt hat er keine suizidalen Tendenzen erkennen lassen.«
»Ich dachte nicht an Selbstmord. Er hat von seinen Feinden geredet – von Verfolgung. Ist das, verzeihen Sie, nicht ein Gefahrensignal?«
»Ich glaube eigentlich nicht, dass es mit ihm schon so weit ist. Aber ich werde mit Maverick sprechen. Die bisherige Entwicklung war viel versprechend – sehr viel versprechend.«
Er sah auf die Uhr. »Ich muss los. Ah, da ist ja unsere liebe Jolly. Sie wird sich Ihrer annehmen.«
Miss Bellever eilte herbei und sagte: »Der Wagen wartet, Mr Serrocold. Dr. Maverick hat vom Institut durchgerufen. Ich habe ihm gesagt, dass ich Miss Marple hinbringe. Er wird uns am Tor empfangen.«
»Danke. Ich muss gehen. Mein Aktenkoffer?«
»Schon im Wagen, Mr Serrocold.«
Lewis Serrocold entfernte sich eilends. Miss Bellever schaute ihm nach und sagte: »Eines Tages wird er tot umfallen. Es ist gegen die menschliche Natur, sich niemals zu entspannen oder auszuruhen. Er schläft nur vier Stunden pro Nacht.«
»Er nimmt seine Aufgabe sehr ernst«, sagte Miss Marple.
»Er denkt an nichts anderes«, sagte Miss Bellever grimmig. »Es würde ihm nicht im Traum einfallen, sich um seine Frau zu kümmern oder irgendwie Rücksicht auf sie zu nehmen. Sie ist ein wunderbarer Mensch, wie Sie ja wissen, Miss Marple, und sie sollte Liebe und Aufmerksamkeit erfahren. Aber hier spielt nichts und niemand eine Rolle, außer diesem Haufen larmoyanter Halbwüchsiger, die nur auf ein bequemes Leben aus sind und von ehrlicher Arbeit nichts halten. Und die anständigen Jungen aus anständigen Familien? Warum wird für die nichts getan? Ehrlichkeit ist für Phantasten wie Mr Serrocold und Dr. Maverick und für den Haufen halbgarer Schwärmer hier anscheinend nicht interessant. Ich und meine Brüder sind streng erzogen worden, Miss Marple, uns hat niemand zum Selbstmitleid ermuntert. Verweichlicht, das ist die Welt heutzutage!«
Sie hatten den Garten durchquert und waren durch ein Palisadentor gegangen und an einen Torbogen gekommen, den Eric Gulbrandsen als Portal für sein College entworfen hatte, ein massiv gebautes, scheußliches Gebilde aus rotem Backstein.
Dr. Maverick, der, wie Miss Marple feststellte, selbst alles andere als normal wirkte, kam ihnen entgegen.
»Danke, Miss Bellever«, sagte er. »Nun, Miss – äh – ach ja, Miss Marple – ich bin sicher, Sie werden interessant finden, was wir hier machen. Unser einzigartiges System zur Lösung dieses großen Problems. Mr Serrocold ist ein mit stupender Einsicht begabter
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