Fata Morgana
alles nur, weil sie nach Amerika geschickt wurde. Ich habe Mutter damals gesagt, dass das höchst unklug sei. Schließlich ist das hier eine durchaus ruhige Gegend. Wir hatten kaum Bombenangriffe. Schrecklich, wie manche Leute wegen ihrer Angehörigen in Panik gerieten – und oft auch um ihrer selbst willen.«
»Es muss aber doch gar nicht leicht gewesen sein zu entscheiden, wie man am besten vorgeht«, sagte Miss Marple gedankenvoll. »Wenn es um Kinder ging, meine ich. Angesichts der Möglichkeit einer Invasion hätte man riskiert, dass sie unter deutscher Herrschaft aufgewachsen wären – von der Bombengefahr ganz zu schweigen.«
»Alles Unsinn«, widersprach Mrs Strete. »Ich hatte nie den geringsten Zweifel, dass wir siegen würden. Aber Mutter war immer so unvernünftig, wenn es um Gina ging. Das Kind wurde auf jede erdenkliche Weise verhätschelt und verzogen. Überhaupt war es schon absolut unnötig, sie aus Italien hierher zu holen.«
»Aber ihr Vater war doch einverstanden, denke ich?«
»Ach, San Severiano! Man kennt ja die Italiener. Denen geht's doch immer nur ums Geld. Er hat Pippa natürlich ihres Geldes wegen geheiratet.«
»Du meine Güte. Ich dachte immer, er war ihr treu ergeben und ganz untröstlich über ihren Tod.«
»Jedenfalls hat er so getan, das schon. Warum Mutter es überhaupt zugelassen hat, dass sie einen Ausländer heiratete, ist mir schleierhaft. Wahrscheinlich war es die notorische Vorliebe der Amerikaner für Adelstitel.«
»Ich habe immer gedacht«, gab Miss Marple zu bedenken, »dass Carrie Louise in ihrer Einstellung zum Leben eher zu weltfremd ist.«
»Ich weiß. Aber ich hab genug davon, genug von Mutters Spleens und Launen und ihren idealistischen Projekten. Du hast ja keine Ahnung, Tante Jane, was das alles für uns bedeutet hat. Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin ja mitten in dem ganzen Schlamassel aufgewachsen.«
Miss Marple erschrak ein bisschen, als sie mit Tante Jane angeredet wurde. Dabei war das damals so üblich gewesen. Auf ihren Weihnachtsgeschenken für Carrie Louises Kinder stand immer »Mit lieben Grüßen von Tante Jane«, und sie alle dachten nur als »Tante Jane« an sie, wenn sie überhaupt an sie dachten. Was, so vermutete Miss Marple, nicht allzu oft der Fall war.
Nachdenklich betrachtete sie die neben ihr sitzende, nicht mehr junge Frau. Den verkniffenen Mund, die tiefen Falten, die sich von den Nasenflügeln bis zum Mund zogen, die krampfhaft zusammengepressten Hände. Verständnisvoll sagte sie: »Du musst eine – schwere Kindheit gehabt haben.«
Mildred Strete sah sie dankbar an.
»Ach, tut das gut, dass das mal jemand anerkennt. Die Menschen haben ja keine Ahnung, was Kinder durchmachen. Pippa war die Hübschere, weißt du. Außerdem war sie älter als ich. Immer war sie es, die im Mittelpunkt stand. Vater und Mutter haben sie beide ermuntert – nicht, dass sie Ermunterung gebraucht hätte –, sich vorzudrängen, sich aufzuspielen. Ich war immer die Stille. Ich war schüchtern, Pippa wusste gar nicht, was Schüchternheit ist. Ein Kind kann furchtbar leiden, Tante Jane.«
»Das weiß ich«, sagte Miss Marple.
›»Mildred ist so dumm‹, hat Pippa immer gesagt. Aber ich war jünger als sie. Natürlich konnte ich im Unterricht nicht mit ihr mithalten. Und es ist sehr unfair, wenn einem als Kind die eigene Schwester ständig vorgezogen wird.
›So ein entzückendes kleines Mädchen‹, haben die Leute immer zu Mama gesagt. Mich haben sie übersehen. Und Papa hat immer nur mit Pippa gescherzt und gespielt. Irgendjemandem hätte es doch mal auffallen müssen, wie schwer das für mich war. Dass alle Aufmerksamkeit immer nur ihr galt. Ich war noch zu jung, um zu wissen, dass es auf den Charakter ankommt.«
Ihre Lippen zitterten, dann verhärteten sie sich wieder.
»Und es war ungerecht, wirklich ungerecht – immerhin war ich ihr leibliches Kind. Pippa war nur adoptiert. Ich war die Tochter des Hauses. Sie war – niemand.«
»Vielleicht war das gerade der Grund, weshalb sie so verwöhnt wurde«, sagte Miss Marple.
»Sie haben sie mehr geliebt«, sagte Mildred Strete. Und sie fügte hinzu: »Ein Kind, das die eigenen Eltern nicht haben wollten, oder, noch wahrscheinlicher, ein uneheliches Kind.«
Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Gina hat das geerbt. Da ist schlechtes Blut im Spiel. Das Blut ist verräterisch. Auch wenn Lewis noch so schöne Theorien über den Einfluss der Umgebung hat. Schlechtes Blut kommt immer durch. Wie man
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