Fata Morgana
dass wir diesen Personenkreis sehr genau unter die Lupe nehmen. Es ist möglich, dass, mit Ausnahme der alten Miss – äh – Marple, die zufällig aus dem Fenster ihres Zimmers sah, niemand wusste, dass Sie und Christian Gulbrandsen bereits unter vier Augen miteinander gesprochen hatten. Wenn dies zutrifft, hat man Gulbrandsen womöglich erschossen, um zu verhindern, dass er Sie von seinem Verdacht in Kenntnis setzt. Natürlich kann man jetzt noch nicht sagen, welche anderen Motive möglicherweise vorlagen. Mr Gulbrandsen war ein wohlhabender Mann, nehme ich an?«
»Ja, er war sehr wohlhabend. Er hat Söhne und Töchter und Enkelkinder, die wahrscheinlich alle von seinem Tod profitieren werden. Aber ich glaube nicht, dass irgendwelche Verwandten von ihm zurzeit in England sind, und sie sind allesamt rechtschaffene und höchst achtbare Persönlichkeiten. Soviel ich weiß, sind keine schwarzen Schafe unter ihnen.«
»Hatte er Feinde?«
»Das halte ich für höchst unwahrscheinlich. Er war – nun ja, er war einfach nicht der Typ dafür.«
»Also läuft es tatsächlich auf dieses Haus und die Menschen darin hinaus? Wer von den Menschen im Haus könnte ihn getötet haben?«
»Das ist eine schwierige Frage«, sagte Lewis Serrocold mit Bedacht. »Wir haben die Hausangestellten, die Familienmitglieder und unsere Gäste. Aus Ihrer Sicht kommen sie alle in Frage, nehme ich an. Ich kann Ihnen nur sagen, dass, soviel ich weiß, alle bis auf die Hausangestellten in der Großen Halle waren, als Christian sie verließ, und solange ich dort war, ging niemand hinaus.«
»Überhaupt niemand?«
»Ich glaube –« Lewis überlegte mit gerunzelter Stirn. »Moment, doch. Eine Sicherung brannte durch, und Walter Hudd ging hinaus, um sie auszuwechseln.«
»Der junge Amerikaner?«
»Ja. Ich weiß natürlich nicht, was sich abgespielt hat, nachdem Edgar und ich hier hereingekommen waren.«
»Und Sie können mir wirklich nichts Genaueres sagen, Mr Serrocold?«
Lewis Serrocold schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Es ist – es ist alles so unvorstellbar.«
Inspektor Curry stieß einen Seufzer aus. »Mr Gulbrandsen wurde mit einer kleinen Automatikpistole erschossen. Wissen Sie, ob irgendjemand im Haus eine solche Waffe besitzt?«
»Nein, keine Ahnung. Aber ich halte es für extrem unwahrscheinlich.«
Inspektor Curry seufzte abermals. »Sie können den anderen Herrschaften sagen, dass sie alle zu Bett gehen können. Ich werde morgen mit ihnen sprechen.«
Als Serrocold das Zimmer verlassen hatte, sagte Inspektor Curry zu Lake: »Na – was meinen Sie?«
»Er weiß, wer's gewesen ist – oder er denkt, er weiß es«, sagte Lake.
»Ja. Ganz meine Meinung. Und es passt ihm überhaupt nicht...«
Elftes Kapitel
I
G ina begrüßte Miss Marple mit einem Wortschwall, als Letztere am nächsten Morgen zum Frühstück herunterkam.
»Die Polizei ist schon wieder da«, sagte sie. »Diesmal sind sie in der Bibliothek. Wally ist absolut fasziniert von ihnen. Er begreift nicht, warum die so ruhig und distanziert sind. Ich glaube, er findet die Geschichte richtig spannend. Ich nicht. Ich finde das alles furchtbar. Der reinste Horror. Was meinen Sie, warum regt mich das so auf? Weil ich zur Hälfte Italienerin bin?«
»Durchaus möglich. Zumindest erklärt es, warum Sie sich nicht scheuen, Ihre Gefühle zu zeigen.« Ein feines Lächeln huschte über Miss Marples Gesicht.
»Jolly ist furchtbar wütend«, sagte Gina, hakte Miss Marple unter und nahm sie mit ins Speisezimmer. »Ich glaube, weil die Beamten jetzt das Sagen haben und sie sie nicht wie alle anderen herumkommandieren kann.
Alex und Stephen«, fuhr Gina streng fort, als sie ins Esszimmer kamen, wo die beiden Brüder gerade ihr Frühstück beendeten, »denen ist das völlig egal.«
»Liebste Gina«, sagte Alex, »du bist gar nicht nett. Guten Morgen, Miss Marple. Es ist mir überhaupt nicht egal. Abgesehen davon, dass ich deinen Onkel Christian kaum gekannt habe, bin ich mit Abstand der beste Verdächtige. Das ist dir doch hoffentlich klar.«
»Nein, warum?«
»Tja, ich bin wohl ziemlich genau zur rechten Zeit mit dem Auto angekommen. Die haben alles rekonstruiert, und anscheinend habe ich zu lange für den Weg vom Pförtnerhaus zum Haus gebraucht – genug Zeit, so der unausgesprochene Verdacht, um aus dem Auto zu steigen, ums Haus herumzulaufen, es durch die Seitentür zu betreten, Christian zu erschießen, hinauszulaufen
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