Fatal - Roman
untergehen. Sie schob Marcelos Hand von ihrer Hüfte und kletterte so leise wie möglich aus dem Bett. Im Dunkeln tappte sie die Treppe hinunter. Mit den Fingerspitzen suchte sie Orientierung an der rauen Wand. Unten angekommen, ging sie zu dem Couchtisch, auf dem ein schwarzer Laptop stand. Sie schaltete ihn ein, und auf dem Bildschirm erschien ein Farbfoto von einem Fischerboot mit untergehender Sonne.
Sie öffnete das Schreibprogramm und setzte sich aufs Sofa. Bevor sie zu schreiben begann, zögerte sie einen Augenblick. Dann fiel ihr der Titel ein:
»Mein kleiner Junge ist weg.«
Sie las ihn noch einmal und noch einmal. Zweifel kamen ihr. Sollte sie ihre Geschichte wirklich niederschreiben? Dann aber schob sie ihre Skrupel beiseite. Sie musste es tun. Für Marcelo, um ihren Job zu behalten und für sich selbst. Schreiben hatte ihr immer geholfen. Sie sah danach klarer. Ja, es war sogar so, dass sie eine Sache erst vollkommen verstand, nachdem sie darüber geschrieben hatte. So schrieb sie nicht nur für die Leser, sondern auch für sich selbst. Über eine Artikelserie hatte sie Will kennengelernt. Ein Artikel sollte auch am Ende ihrer Beziehung stehen:
Wie ist das, wenn man sein Kind verliert? Vorige Woche hat man mich gebeten, darüber einen Artikel zu schreiben. Statistiken über Kindstötungen oder Entführungen
helfen da nicht weiter. Wir wollten wissen, wie das Leben einer Mutter aussieht, die ihr Kind verloren hat. Zuerst besuchte ich Laticia Williams. Ihr achtjähriger Sohn Lateef war bei einer Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Gangs erschossen worden. Dann sprach ich mit Susan Sulaman. Ihre beiden Kinder waren vor einigen Jahren von ihrem Vater entführt worden.
Und nun kann ich zu den Geschichten dieser Frauen meine eigene hinzufügen.
Diese Woche musste ich meinen Sohn zurückgeben. Ich hatte ihn adoptiert, aber man hatte mich betrogen. Mein Kind ist in Wirklichkeit der Sohn eines Ehepaares aus Florida. Er war vor zwei Jahren entführt worden. Hoffentlich findet es niemand anmaßend, dass ich mein Schicksal mit dem der beiden anderen Frauen in eine Reihe stelle. Mein Kind lebt, Laticia Williams Sohn ist tot. Aber auch ich habe mein Kind für alle Zeiten verloren. Mord, Entführung oder eine merkwürdige Fügung des Schicksals wie bei mir - das Ergebnis ist das gleiche.
Dein Kind ist nicht mehr da.
Wie gehst du damit um?
Laticia Williams ist wütend und zornig. Sie ist es am Abend, wenn sie ihren Sohn nicht mehr zu Bett bringen kann. Sie ist es am Morgen, wenn sie ihm nicht mehr sein Pausenbrot machen und ihn zur Schule begleiten kann. Sie ist es zu jeder Stunde des Tages. Sie empfindet Wut und Zorn, und sie wird von diesen Empfindungen allmählich aufgefressen.
Alle Mütter in der Nachbarschaft bringen ihre Kinder
zur Schule und holen sie auch wieder ab. Sie bangen um ihr Leben. Sie wollen sie beschützen. Nicht immer nützt es etwas.
Lateef saß zum Beispiel zu Hause im Wohnzimmer und sah fern. Die Gewehrkugeln drangen durchs Fenster ein und zerschmetterten sein Gesicht. Der Bestattungsunternehmer brauchte einen Tag, um es so herzurichten, dass die Leute bei der Trauerfeier Abschied von ihm nehmen konnten. In der Schule war Teef, wie er gerufen wurde, bei allen beliebt. Er war der Klassenclown. Noch heute schmücken seine Klassenkameraden seine Schulbank mit Blumen.
Susan Sulaman fühlt sich leer. Diese Leere bestimmt ihr ganzes Leben. Sie weiß, dass ihre Kinder bei ihrem Vater leben, aber sie weiß nicht, wo sie sind. Sie sucht sie überall. Abends fährt sie die Stadt ab. Kommt tagsüber ein Schulbus vorbei, blickt sie erwartungsvoll in die Gesichter seiner kleinen Passagiere.
Der Verlust der Kinder liegt wie ein Fluch auf ihr. Ob es sie nicht beruhigt, dass ihre Kinder zumindest bei ihrem Vater leben, habe ich sie gefragt.
Ihre Antwort: »Nein. Ich bin ihre Mutter. Sie brauchen mich.«
Ich weiß jetzt, wie sie sich fühlt. Ich weiß auch, wie Laticia sich fühlt. Auch ich bin voller Wut, auch ich fühle mich leer. Meine Wunde ist noch frisch und offen. Sie blutet noch. Sie ist noch nicht verbunden, genäht oder vernarbt.
Will zu verlieren ist für mich wie der Tod.
Meine Mutter ist vor kurzem gestorben, und genauso fühlt es sich an. Plötzlich hat das Leben seine Mitte verloren.
Wo ist dein Herz? Hat man es dir herausgerissen?
Aber du bleibst mit dem Menschen verbunden, der gestorben ist, über den Tod hinaus.
Ich bin immer noch die Tochter meiner Mutter, auch wenn sie
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