Fatal - Roman
tot ist. Ich bin immer noch Wills Mutter, auch wenn er nicht mehr bei mir ist.
Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind ist etwas Einzigartiges. Jede Mutter weiß das instinktiv. Sie muss keine großen Worte darüber verlieren.
Auch wenn du nicht die leibliche Mutter bist, dein Kind »nur« adoptiert hast, ist es so. Ich habe Will nicht das Leben geschenkt, aber meine Bindung zu ihm ist so stark, als wären wir Blutsverwandte.
Die Liebe schweißt uns zusammen.
Schon als ich ihn zum ersten Mal im Krankenhaus gesehen habe - Schläuche waren unter seiner Nase festgeklebt -, habe ich mich in ihn verliebt. Er kämpfte damals um sein Leben. Von diesem Tag an gehörte ich zu ihm und er zu mir.
Natürlich war ich manchmal erschöpft. Mir war alles zu viel, aber ich konnte mich nie an ihm sattsehen. Wie er aß und durch die Wohnung tobte. Wie er mit Legosteinen spielte. (Und sie überall im Haus verteilte, was mir weniger lieb war.) Ich liebte den Klang seiner Stimme, wenn er nach unserem Kater rief.
Es ist vielleicht unsinnig, verschiedene Liebesbeziehungen miteinander zu vergleichen. Ich hatte vorher geliebt, und ich bin vielleicht gerade dabei, mich wieder in einen Mann zu verlieben. Aber eine Sache hat mich der Verlust von Will gelehrt:
Die Liebe einer Mutter ist etwas Besonders.
Die Liebe zu einem Mann kann erkalten und erlöschen.
Die Liebe zu deinem Kind niemals.
Selbst wenn es nicht mehr da ist.
Ellen lehnte sich zurück und las noch einmal die letzte Zeile. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen.
»Ellen?« Marcelo kam im Dunkeln die Treppe herunter.
»Ich bin mit meinem Artikel fertig.« Sie rieb sich die Augen. Marcelo reichte ihr die Hand.
»Komm. Legen wir uns noch einmal hin.«
86
Am nächsten Morgen war der Himmel klar. Ellen saß auf dem Beifahrersitz von Marcelos Wagen und sah zum Fenster hinaus. Ab und zu kniff sie die Augen zu. Das Sonnenlicht, das vom Neuschnee reflektiert wurde, war überraschend stark. Die oberste Schneeschicht war in der Kälte hart geworden. Man hatte die Straßen, die zu ihrem Haus führten, bereits geräumt. Hüfthohe Schneehaufen türmten sich zwischen den geparkten Autos.
Ein paar Kinder, gut eingepackt in Schal und Schneeanzug, spielten auf einem Hügel. Ein Mädchen unter ihnen, Jenny Waters, ging mit Will in den Kindergarten. Ellen ertrug ihren Anblick nicht und sah weg. Sie verließen die Montgomery Avenue. Die kahlen Äste der Bäume
waren dank des Schnees doppelt so dick geworden, auf den Dächern der abgestellten Wagen lastete eine schwere Schneedecke. Der viele Neuschnee hatte die Stadt verändert.
Nachdem sie gestern Nacht ihren Artikel beendet hatte, war sie sofort eingeschlafen. Aber ihr Schlaf war unruhig gewesen. Nach der Morgendusche hatte sie sich besser gefühlt. Sie war in einen alten grauen Pullover von Marcelo geschlüpft. Ihr Haar war immer noch nass, es fiel lose auf ihre Schultern. Dass sie ohne Make-up neben Marcelo saß, verstand sie als eine vertrauensbildende Maßnahme. Sie hatte sich einfach nicht dazu überwinden können, sich im Spiegel anzusehen.
»Ich muss meinen Vater anrufen«, sagte sie.
»Das Handy ist in deiner Handtasche. Ich habe es aufgeladen.«
»Danke. Ich hätte Connie anrufen müssen. Heute geht sie wahrscheinlich zum Football.«
»Ich habe mit ihr gesprochen. Wir treffen sie bei dir zu Hause. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
»Nein, im Gegenteil.« Das war eine gute Nachricht. »Wie geht es ihr? Ist alles in Ordnung?«
»Die Geschichte hat sie sehr mitgenommen. Aber es wird dir guttun, sie zu sehen.« Marcelo bog in ihre Straße ein. Der Anblick ihres Hauses berührte Ellen seltsam. Überall standen Übertragungswagen von Fernsehsendern, ihre Antennen ragten in den blauen Himmel. Auf dem Gehweg drängten sich Reporter mit Kameras.
»Ich hasse Journalisten«, sagte Ellen.
»Ich auch.« Marcelo sah sie besorgt an. »Soll ich noch einmal eine Runde um den Block drehen?«
»Nein. Gehen wir’s an.« Ellen zog den Mantel fester um sich.
»Scheint sich nicht nur um Regionalfernsehen zu handeln.« Marcelo fuhr langsamer. »Ich schicke dir Sals Artikel, bevor ich ihn in Druck gebe.«
»Das wird heute Nachmittag sein, gegen vier?«
»Es geht auch später.«
»Danke. Kommst du mit rein?«
»Wenn ich darf. Ich würde Connie gern kennenlernen.«
»Dann komm mit.« Überraschenderweise war ihre Nachbarin, Mrs Knox, dabei, den Weg für sie freizuschaufeln. Die Pressemeute ignorierte sie. Vielleicht war die alte
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