Fatal - Roman
wirst aber nächste Woche über Wills Zustand, physisch und emotional, informiert werden. Das haben sie mir zugesagt.«
»Wie großzügig.« Zorn stieg in ihr hoch. Zum Glück begann das Valium zu wirken.
»Wir müssen mit dem, was sie uns anbieten, zufrieden sein.«
»Sie werden Wills Krankenakte brauchen. Nicht einmal die haben sie. Ich habe sie zu Hause.«
»Wir schicken sie dem Kinderarzt.«
Ellen ließ sich auf das Kopfkissen zurückfallen. Sie wollte niemanden mehr verletzen. Sie wollte nicht mehr weinen oder schreien. Sie wollte auch die Zeit nicht mehr zurückdrehen und nicht mehr an den Tag denken, an dem sie den Flyer in der Post gefunden hatte.
»Ellen, versuch zu schlafen. ›Der Schlaf entwirrt des Grams verworrenes Gespinst.‹ Das hat Shakespeare gesagt.«
»Ich bin nicht mit dem Herrn verwandt.«
Ron stand auf. »Wenn du Fragen hast, ruf mich an. Bleib bei Marcelo. Ich denke an dich. Genau wie Louisa.«
»Ich danke dir.«
Marcelo begleitete Ron nach unten. »Ron, vielen Dank, dass du mir nichts Nettes gesagt hast. Du bist wirklich ein wahrer Freund«, rief sie ihm nach.
Ron antwortete ihr nicht. Sie hörte nur noch seine Schritte auf der Treppe. Nach einer Weile kam Marcelo mit einem Glas zurück.
»Sag, dass das Whiskey ist.«
»Nein, es ist Cola.«
»Meinetwegen.« Ellen setzte sich auf und trank einen Schluck. Was für ein ekliger süßer Geschmack.
»Hast du Hunger?«
»Nein.« Ellen gab ihm das Glas zurück und legte sich wieder hin. Zum Glück verfiel sie erneut in einen Dämmerzustand. Ihre Gedanken kreisten um Connie und ihren Vater. »Ich muss das Kindermädchen anrufen.«
»Sie weiß bestimmt schon Bescheid. Die Nachrichtensendungen waren voll davon.«
Ellen machte sich Vorwürfe. »Ich hätte es ihr persönlich sagen müssen.«
»Ich kümmere mich um alles.« Marcelo stellte das Glas auf dem Nachttisch ab. »Gibst du mir ihre Nummer?«
»Du findest sie im Addressbuch auf meinem Handy. Sie heißt Connie. Meinem Vater muss ich auch Bescheid sagen. Er ist in Italien. Er heiratet.«
Marcelo verzog die Stirn. »Wann kommt er zurück?«
»Hab ich vergessen.«
»Wir warten, bis er wieder da ist.«
»Der Kater muss gefüttert werden.«
»Das hat Zeit. Entspann dich.« Er fasste sie am Arm.
»Danke, dass du so lieb zu mir bist.«
»Ron hat recht. Du musst deinen Scherbenhaufen zusammenkehren. Ich helfe dir dabei.«
»Das musst du nicht.«
»Ich will aber. Ich habe ein Anrecht darauf.« Er gab ihr einen Klaps auf den Arm.
»Darf ich heute Nacht hierbleiben?«
»Ja.«
»Und wo schläfst du?«
»Ich habe ein Gästezimmer, aber am liebsten …«
»Ist das eine Einladung zu einem kleinen Abenteuer?«
»Aus dem Alter sind wir raus.«
Ellen schloss die Augen. Sie wollte Marcelos tiefe Stimme genießen. Sie liebte seinen portugiesischen Akzent. Seine rollenden S-Laute erinnerten sie an das Schnurren ihres Katers.
»Und was ist mit der Arbeit? Schließlich bist du mein Redakteur.«
»Da findet sich eine Lösung.«
»Komisch. Das hast du vor kurzem noch ganz anders gesehen.«
»Ich hab jetzt andere Pläne.«
Ob Marcelo sie dann auf die Wange geküsst hatte oder ob das nur ein Traum gewesen war, hätte sie später nicht mehr zu sagen gewusst.
85
Im Schlafzimmer war es noch dunkel, als Ellen aufwachte. Sie lag angezogen auf dem Deckbett. Marcelo, ebenfalls angezogen, hatte den Arm liebevoll um ihre Taille gelegt. Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Es war 3 Uhr 46. Sie blieb eine Weile ruhig liegen, aber ihre Hoffnung, der Schlaf würde zurückkehren, erfüllte sich nicht. Eine Gewissheit durchfuhr sie plötzlich wie ein Blitz. Eine Gewissheit, die sich in Herz und Seele brannte und jede Faser ihres Gehirns versengte.
Will ist nicht mehr bei mir.
Sie stellte ihn sich in einem Hotelzimmer vor. »Wo ist Mama? Was ist passiert? Warum bin ich nicht zu Hause? Warum bin ich nicht bei meinem Kater? Warum gehe ich nicht in den Kindergarten?« Bill Bravermann würde Wills Fragen nicht beantworten, sondern ihm lächelnd ins Gesicht sehen und ihn liebevoll Timothy nennen. Bestimmt hatten sich Rechtsanwälte, Kinderärzte und Seelenklempner um ihn versammelt. Aber wo war die Mutter? Man hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Er hatte mit einer Mutter ohne Vater zusammengelebt. Jetzt drängte man ihn in ein Leben mit einem Vater ohne Mutter.
Er ist doch noch ein kleiner Junge.
Ellen wusste, was sie als Nächstes tun musste, wollte sie nicht in einer Flut von Tränen
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