Fatal - Roman
linke Seite der Garage, wo normalerweise Rick Muskos Wagen stand. Rechts war der Platz von Karens Auto gewesen. Dort stapelten sich jetzt Pappkartons übereinander. Es sah aus wie ein überdimensionaler Zauberwürfel. Einen alten Tennisschläger mit lockerer Bespannung hatte man unsinnigerweise an der Decke aufgehängt.
Die abgeschlossenen Fälle.
Ellen knüpfte ihren Trenchcoat auf und begann, den Kartonberg abzutragen. Die Schachteln waren alphabetisch angeordnet, sie suchte nach dem Buchstaben G. Zehn Minuten später war ihr richtig warm geworden. Sie hatte alle Schachteln auf dem Garagenboden verteilt. Sie öffnete den Deckel eines Kartons, der mit »Ga-Go« beschriftet war, und nahm einen Stapel Akten heraus. Auf jedem Ordner stand der Name des Mandanten. Bei der Durchsicht
fiel Ellen auf, dass - wie vorauszusehen war - die meisten Mandanten Paare waren: Galetta, Bill und Kalpanna; Gardner, David und Melissa McKane; Gentry, Robert und Xinwei; Gibbs, Michael und Penny Carbone. Als sie zu Gilbert, Dylan und Angela, kam, schlug ihr Herz schneller, doch auf der nächsten Akte stand nicht »Gleeson, Ellen«, sondern »Goel, John und Lucy Redd«.
Vielleicht war ihre Akte falsch eingeordnet worden? Nein, es gab keinen Gleeson-Ordner. Es gab Gold, Howard und Mojdeh; Gold, Steven und Calina, und Goldberger, Danja. Sie suchte weiter: Golden, Golen, Gorman, dann Grant und Green. Ihre Akte fehlte. Ratlos blickte sie zu den vielen Kartons, die sie auf dem Boden verteilt hatte. Da waren noch ein paar Kartons mit dem Buchstaben G, doch wenn man ihre Akte falsch eingeordnet hatte, konnte sie überall stecken. Ellen holte tief Luft und machte sich an die Arbeit. Zwei Stunden später hatte sie alle Kartons durchgesehen, aber von ihrer Akte fehlte jede Spur.
Was wird hier gespielt?
Sie baute gerade den riesigen Zauberwürfel wieder zusammen, als sie vom lauten Dröhnen eines Automotors überrascht wurde. Die Garagentür sprang geräuschvoll auf, die Scheinwerfer eines Geländewagens blendeten sie. Der Fahrer stieg aus und stellte sich vor: Rick Musko.
»Sie sind also immer noch da?«, fragte er.
Musko war Mitte fünfzig, älter als Karen. Er war groß und kahlköpfig.
»Es tut mir leid, aber ich kann meine Akte nicht finden. Gleich bin ich fertig.«
»Einen Augenblick. Ich kenne Sie doch. Sind Sie nicht
die Journalistin, die das Baby adoptiert hat? Ich habe damals Ihre Artikel darüber gelesen.«
»Ja, die bin ich.« Ellen stellte sich noch einmal vor.
»Ich habe Ihren Namen am Telefon nicht richtig mitbekommen. Ich war mitten in der Arbeit.« Musko gab ihr die Hand. »Ich war ziemlich unhöflich zu Ihnen. Aber ich wusste ja nicht, wer Sie sind. Karen hat Ihr Artikel gefallen.«
»Sie war eine großartige Anwältin. Sie müssen sie sehr vermissen.«
»Ja. Danke.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo meine Akte sein könnte?« Ellen nahm eine Schachtel und hievte sie auf den Kartonberg. »Könnte sie bei Karens Nachfolger sein? Ich werde ihn morgen früh anrufen.«
»Das ist sinnlos.« Den nächsten Karton übernahm Musko. »Er hat Karens Ordner penibel durchgesehen, denn er wollte nur die Akten von den laufenden Fällen mitnehmen, hauptsächlich Scheidungen und Sorgerechtsfälle. Für abgeschlossene Verfahren hatte er keinen Platz, soviel ich weiß.« Musko rückte einen neuen Karton zurecht. »Die ganze Zeit stehen die hier schon herum. Nur weil ich zu geizig bin, irgendwo anders Lagerkosten zu bezahlen. Aber wo ist Ihre Akte abgeblieben?«
»Haben Sie eine Idee?« Ellen klappte einen Kartondeckel zu. »Wirklich seltsam, dass sie fehlt.«
Musko dachte nach. »Karens persönliche Unterlagen aus ihrem Schreibtisch habe ich drinnen. Vielleicht ist Ihre Akte dabei.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ihr Artikel.« Musko griff nach dem letzten Karton.
»Sie hatte damals dreißig Exemplare der Zeitung gekauft.«
Ellen war gerührt. Das war das Geheimnisvolle an ihrem Beruf: Man wusste nie, was mit den Worten geschah, die man schrieb.
»Vielleicht hat sie die Akte deshalb aufgehoben. Ich habe in diese Kartons noch nie hineingeschaut.«
»Ich will Ihnen keine Umstände machen.«
»Keine Sorge. Ich stelle Ihnen mein Arbeitszimmer zur Verfügung, dann können Sie alles in Ruhe durchsehen.«
»Das wäre wunderbar.« In Ellen keimte wieder Hoffnung auf. Sie nahm ihren Mantel, und Musko fuhr den Wagen in die Garage.
Sie machten das Licht aus und gingen zusammen ins Haus.
22
Ellens »Nähzimmer« war eine Hundehütte im
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