Fatal - Roman
einfach zur Tagesordnung übergehen.«
»Das ist der springende Punkt. Deshalb bin ich hier. Alle sollen erfahren, was es bedeutet, sein Kind auf diese Weise zu verlieren.«
»Ich habe geweint, bis ich nicht mehr konnte. Wir alle haben geweint. Aber wissen Sie, was niemand versteht, was nie jemand verstehen wird?«
»Sagen Sie es mir.«
»Bei mir und Dianne, die am Ende der Straße wohnt und auch ihr Kind verloren hat, ist es anders. Natürlich sind wir wütend. Wütend ist gar kein Ausdruck. Dieses Morden - wir können nicht mehr.« Laticias Stimme hob und senkte sich wie beim Beten einer Litanei. »Unsere Kinder werden erschossen wie in der Schießbude - eines nach dem anderen. Wir können nicht mehr. Wir können das nicht mehr ertragen. Aber nichts wird sich ändern. Das ist Amerika .«
Ellen nahm diese Worte in sich auf. Sie fragte sich, ob
sie fähig sein würde, die Gefühle der Mutter so darzustellen, dass auch andere sie verstanden.
»Es ist wie damals in New Orleans, als die Flut kam. Die Menschen werden mit zweierlei Maß gemessen. Den einen hilft man, die anderen lässt man krepieren. Und es wird immer so bleiben, für alle, weiß oder schwarz, reich oder arm - so sieht es in Wahrheit hier aus.« Laticia wies mit dem Zeigefinger auf Ellen. » Sie leben in Amerika, ich nicht. Sie leben in Philadelphia, ich nicht.«
Ellen wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie schwieg.
»Wo ich wohne, kann mein Kind jederzeit auf der Straße erschossen werden. Gibt es für die Tat Zeugen? Fehlanzeige. Wieso schauen alle weg? Du willst dich darüber aufregen, aber das kannst du nicht, und du machst es auch nicht. Denn wer jemanden verpfeift, ist bald darauf selber tot. Und dann sind seine Kinder tot. Und dann ist die ganze Familie tot.«
Ellen wollte Laticia nicht mit einer Frage unterbrechen. Alles, was sie sagte, war wichtig.
»Das Einzige, was mir bleibt: Ich kann erzählen, was für ein süßer Junge Teef war. War , denn er ist es nicht mehr.« Laticia lächelte kurz, der Zorn verschwand für einen Augenblick aus ihren Augen. »Er war so lustig, ein richtiger Spaßvogel. Manchmal konnten wir nicht mehr vor Lachen. Beim letzten Familientreffen rappte er drauflos, dass die Bude wackelte. Ich vermisse ihn - in jeder Minute meines Lebens.«
Ellen dachte an Susan Sulaman, wie sie von ihrem Sohn erzählt hatte, und an Carol Braverman, die auf ihrer Website betete, ein Wunder möge geschehen.
»Auch wenn Teefs Tod mich am meisten betrifft - er ist nicht der Einzige, der ermordet worden ist.« Laticia legte die Hand auf das Foto auf ihrem T-Shirt. »Drei andere Kinder sind in unserem Viertel getötet worden. Alle erschossen. Darf ich Sie was fragen? Passiert das auch in Ihrem Wohnviertel?«
»Nein.«
»Drei, allein in diesem Jahr. Das Jahr davor und im vorletzten Jahr waren es acht. Acht - ermordet. Ein ganz schön hoher Leichenhaufen.«
Ellen dachte über den Sinn von Zahlen nach. Man zählte die Toten und schrieb die Zahlen in Kolonnen untereinander wie bei Kostenrechnungen. Aber waren neun oder zwölf tote Kinder schlimmer als ein totes Kind? Nein, denn ein totes Kind war schon eines zu viel.
»Bald werden sie alle umgebracht haben. Dann laufen hier keine Kinder mehr herum, sondern nur noch Gespenster. Philadelphia wird eine Geisterstadt wie im Wilden Westen. Eine Totenstadt.«
Ellen spürte die Bitterkeit dieser Worte. Ihr wurde klar, dass Laticia Williams und Susan Sulaman, obwohl sie in zwei verschiedenen Welten lebten, sehr viel miteinander gemein hatten. Trauer und Wut würden beide ihr Lebtag heimsuchen. Ob es Carol Braverman genauso ging? Sie hätte es gerne gewusst. Dann fielen ihr die Akten ein, die in der Garage auf sie warteten. Alles würde sich heute Abend klären.
»Haben Sie ein Kind?«, fragte Laticia plötzlich.
»Ja«, antwortete Ellen, »einen Jungen.«
»Das ist gut.« Laticia lächelte, ihr Goldzahn blitzte kurz auf. »Passen Sie gut auf Ihren Jungen auf. Halten
Sie ihn fest. Versprechen Sie mir das? Man weiß nie, was passiert.«
Ellen nickte. Sie brachte kein Wort heraus.
21
Ellen stand in der kalten Garage. Beim Ausatmen blies sie Nebelwölkchen in die Luft. Um sie herum lehnten Kinderräder an den Wänden. Auf Metallregalen hatten Bälle, Rollerblades, Knieschützer und eine Kanne mit meerblauem Frostschutzmittel Platz gefunden. Daneben standen Kanister mit Autopolitur und Dosen mit Insektenbekämpfungsmitteln, ein Trimmrad hinter einer Werkbank. Neonröhren erhellten die
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