Fatal - Roman
kalter Wind biss sie in die Wangen, und ihre Zehen fühlten sich eisig an. In einiger Entfernung, hinter einer Ansammlung von Krüppelkiefern, entdeckte sie eine Rodelbahn mit wenigen Kindern, die flacher war. »Lass uns dahin gehen, da ist es besser.«
»Warum können wir hier nicht Schlitten fahren?«
»Weil es da besser ist. Und bleib an meiner Hand!«
Will hörte nicht auf sie und wollte sich auf dem vereisten Schnee davonmachen.
»Will, nein!«, rief Ellen und bekam ihn gerade noch an seinem Schneeanzug zu fassen. »Mach das nicht! Das ist gefährlich!«
»Mama, ich kann das! Du hast es gesagt! Ich kann das!«
»Nein, wir gehen zu der anderen Rodelbahn. Hab Geduld.«
»Ich habe GEDULD!«, schrie er, und eine Gruppe Teenager brach in Lachen aus. Will war beleidigt, was Ellen schrecklich leidtat.
»Komm, mein Großer.« Sie nahm ihn bei der Hand, und in Riesenschritten marschierte sie mit ihm zu dem kleineren Hügel. Oben angekommen, taxierten beide schweigend die vor ihnen liegende Abfahrt. Es war kein Todeshang, aber auch nichts für Kleinkinder.
»Auf die Plätze, Mama.«
»Okay, wir fahren zusammen.«
»Nein, ich will allein fahren.«
»Nicht hier, Kumpel.«
»Warum?«
»Es ist besser, wenn ich mit dir fahre.« Ellen stellte den Schneewok auf den Boden und ließ sich hineinplumpsen. Will kletterte zu ihr und setzte sich auf ihren Schoß. Sie
schob die Sonnenbrille hoch, legte die Arme wie einen Sicherheitsgurt um ihn und sprach sich Mut zu. »Das wäre doch gelacht.« Wind peitschte ihr harten Schnee ins Gesicht.
»Auf geht’s, Mama, auf geht’s! Fahr wie er!« Ein Snowboarder mit einer knallroten Mütze, auf der ein Drachen abgebildet war, machte sich neben ihnen zur Abfahrt bereit.
»Halt dich an meinen Armen fest, und lass die Füße drin.« Ellen biss die Zähne zusammen und nahm Schwung für den Start. »Auf die Plätze! Fertig! Los!«
»Yeah!«, rief Will. Ellen schrie ebenfalls und hielt ihn, so fest sie konnte, bis ihr Plastikgefährt seinen eigenen Weg einschlug und außer Kontrolle geriet. Die Welt um sie herum - Bäume, Himmel, Schnee und Leute - drehte sich im Kreis. Ellen betete, dass die Fahrt bald ein Ende finden würde, und klammerte sich an Will fest, der wie am Spieß schrie. Kurz darauf wurden sie glücklicherweise langsamer, doch dann rumsten sie über einen Buckel, wurden aus dem Wok geschleudert und schlitterten hügelabwärts.
»O nein!«, schrie Ellen, als Will auf dem Rücken an ihr vorbeitrieb. Schließlich gelang es ihr, wieder Boden unter die Füße zu bekommen, sie stand auf und stürmte ihm hinterher.
Sie fiel neben ihm in den Schnee. Will lachte so laut, dass er kaum Atem holen konnte. Er strahlte über das ganze Gesicht, Arme und Beine lagen ausgestreckt im Schnee wie die Arme eines Seesterns auf dem Meeresboden.
»Gut gemacht, Alter!« Der Snowboarder klatschte Beifall, und Will quiekte vor Vergnügen.
»Noch einmal, Mama!«
Ellen standen Tränen der Erleichterung in den Augen, der Snowboarder schob seine Drachenmütze hoch und beäugte sie argwöhnisch.
»Lady«, sagte er, »sie sollten mal chillen. Ernsthaft.«
37
Ellen schleppte sich mit Will auf dem Arm den Hügel hinauf. Die Teenager lachten, als sie an ihnen vorbeigingen; ein junges Mädchen hielt sich mit seinen Fäustlingen die Ohren zu, und ein anderes bestrafte Ellen mit einem vorwurfsvollen Blick. Denn Will weinte, tobte und schrie. Schon lange brachten Wutanfälle Ellen nicht mehr aus der Fassung. Sie ließ sie stoisch über sich ergehen, betrachtete sie geradezu als Auszeichnung. Denn Wutanfälle waren ein Indiz dafür, dass eine Mutter bei einem entscheidenden Punkt nein gesagt hatte.
»Ich will noch mal fahren!« Will schluchzte, und Tränen liefen ihm die Wangen herunter. »Noch mal!«
»Beruhige dich, mein Schatz.« Ellen dröhnte von Wills Geschrei und dem Johlen und Lachen der anderen Kinder der Kopf. Sie wich zwei Jugendlichen aus, dabei glitt ihr die Schnur des Woks aus der Hand.
»Mama! Bitte! Noch mal!«
»O nein!«, rief Ellen entsetzt. Doch bevor sie den Wok zu fassen bekam, war er schon auf dem Weg nach unten. Sie konnte ihm nur noch nachsehen. Will musste dringend nach Hause und ein Schläfchen halten.
»Ich kann’s … ganz allein!«, jammerte Will weiter vor sich hin.
»Bitte, beruhige dich. Es ist alles in Ordnung.« Endlich kamen sie zum Wagen, sie setzte ihn in den Kindersitz, sprang hinters Steuer und fuhr los, ohne sich um Wills Protestgeheul zu
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