Fatal - Roman
ist er vor fünf Jahren verstorben. Er wurde einundneunzig Jahre alt.«
»Interessant.« Das Gemälde zeigte einen schlanken Mann mit silbernem Haar in einem hellgrünen Straßenanzug. Er stand vor einer Bücherwand. Ellen ertappte sich dabei, dass sie sein Gesicht nach Ähnlichkeiten mit Will
absuchte. Was unnötig war, denn die Papiertüte in ihrem Wagen würde nun endgültig für Klarheit sorgen.
»Bertrand war ein wunderbarer Mann. Mein Vater war mit ihm befreundet gewesen. Er gehörte zu den ersten Bürgern der Gemeinde. Sie verdankt ihm sehr viel Wohlstand. Das Charbonneau House ist sein Elternhaus. Übrigens ist es nur eine seiner vielen Schenkungen an uns.«
Was hatte Carol Braverman mit alldem zu tun? Aber da ihre Führerin die Familie persönlich kannte, wollte sich Ellen nicht zu weit vorwagen. »Ich nehme an, dass Bertrand Charbonneau sich für Theater interessiert hat.«
»Rhoda, seine Frau, war eine Zeit lang Schauspielerin gewesen, bevor sie sich nur noch um die Erziehung ihrer Kinder kümmerte. Aber auch danach blieb sie dem Kindertheater mit Leib und Seele verbunden.« Sie gingen zu einem anderen Porträt. Ein Mann in einem sportlichen Sweater stand an einem Swimmingpool. Die Tafel darunter verriet seinen Namen: Richard Charbonneau.
»Das ist wohl Bertrands Sohn?«, fragte Ellen und studierte seine Gesichtszüge. Er hatte die gleichen blauen Augen wie Carol und Will. Bald würde sie wissen, ob Will mit dem Mann auf dem Ölgemälde verwandt war.
»Ja. Richard und mein Vater waren gleich alt. Er und seine Frau Selma erwiesen sich als würdige Nachfolger seines Vaters. Leider kamen beide vor vielen Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben.«
»Führt die Familie diese wunderbare Tradition fort?«
»Da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Richard und seine Frau hatten eine Tochter, Carol. Die versteht sehr viel von Kindertheater und inszeniert auch. Jeden Dienstag und Donnerstag arbeitet sie hier mit Kindern.«
»Das ist sehr schön.« Ellen konnte das Porträt nicht länger ansehen. Wenn Will Timothy war, dann war Bertrand Charbonneau sein Urgroßvater und Richard Charbonneau sein Großvater. Er wäre der Nachkomme einer wunderbaren und äußerst wohlhabenden Familie. Sie dachte an den Tag, an dem sie die Ergebnisse der DNA-Analyse erhalten würde. Sie fürchtete sich vor diesem Tag.
Nicht einmal meinem ärgsten Feind wünsche ich, eine derartige Entscheidung treffen zu müssen.
» Wollen Sie noch mehr wissen?«, fragte die Frau.
»Nein, vielen Dank.«
Ellen verabschiedete sich und wandte sich dem Ausgang zu. Fluchtartig schlug sie den Weg zu ihrem Wagen ein. Sie wollte das Charbonneau House und den Charbonneau Drive vergessen. Sie wollte die DNA-Proben vergessen, die ihr die Antwort auf eine Frage versprachen, die sie nie hatte stellen wollen. Außer Atem kam sie beim Wagen an, stieß die Tür auf, griff nach der Papiertüte mit der Dose unter dem Fahrersitz, bereit, sie auf den wunderschönen Rasen zu schleudern.
Mitten in der Bewegung hielt sie inne. Sie dachte an Will. Es war seine Sache, nicht ihre. Es war seine Wahrheit, nicht ihre. Ob Will ihr oder den Bravermans gehörte, hatte sie herausfinden wollen. Die Wahrheit aber war eine ganz andere: Er gehörte nur sich selbst.
Sie beugte sich vor und verstaute die Tüte wieder unter dem Beifahrersitz.
Es war Zeit, nach Hause zu fliegen.
57
Die Warteschlange am Ticketschalter war beängstigend lang. Ellen konnte es kaum erwarten, Will wiederzusehen. Deshalb wollte sie ihren Flug auf keinen Fall verpassen. In Pullover und Jeans war sie endlich wieder sie selbst - in ihren Florida-Kleidern hätte sie im heruntergekühlten Flughafen frieren müssen.
Sie sah auf die Uhr, während sie ein Putensandwich in sich hineinschlang. Die anderen Passagiere vertrieben sich auf ihre eigene Weise die Zeit. Das Mädchen vor ihr wippte zu der Musik aus ihrem iPod, die Finger eines Managers flogen über die Tasten seines Blackberry. Ein anderer schrie auf Portugiesisch in sein Handy - was sie an Marcelo erinnerte. Am Morgen hatte sie vergeblich versucht, ihn anzurufen. So hatte sie ihm eine Nachricht hinterlassen, dass sie morgen wieder zur Arbeit käme.
»Entschuldigen Sie, bewegt sich die Schlange überhaupt?«, fragte ein älterer Herr hinter ihr. Ellen stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Schalter zu sehen. Er war nur mit einem Mann besetzt. Die beiden Selbstbedienungsschalter waren außer Betrieb.
»Ehrlich gesagt, nein«, sagte Ellen
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