Fatal - Roman
Kind.«
»Reizend«, sagte auch Linda, ohne stehen zu bleiben. »Wirklich bezaubernd, der Junge. Man wollte ihn mit Haut und Haaren auffressen.«
Ellen verbarg ihre Gefühle. Die Papiertüte in ihrer Hose knisterte beim Gehen.
»Es ist eine Schande.« Linda schüttelte den Kopf. Ihre braunen Augen glänzten. Sie hatte ein wohlgeformtes Gesicht und trug eine Goldkette mit einem kleinen Korallenanhänger, der beim schnellen Gehen auf und ab sprang. Sie kamen jetzt an einem großen Anwesen vorbei, das eher nach Virginia als nach Miami gehörte.
»Es ist so traurig. Das Kindermädchen wurde erschossen. Das ist nicht fair. Warum müssen sie immer gleich jemanden
erschießen? Ich weiß nicht, was in den Leuten heutzutage vorgeht.«
Ellen sagte kein Wort. Phyllis und Linda mussten zum Reden nicht animiert werden, obwohl sie so rüstig ausschritten, dass Ellen kaum mithalten konnte. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel. Die Luftfeuchtigkeit betrug gefühlte hundertzwanzig Prozent.
»Carol und Bill ging es danach entsetzlich schlecht. Tag und Nacht kampierten Reporter vor ihrem Haus und ließen sie keine Minute in Ruhe. Polizei und FBI gingen ein und aus.«
Ellen ließ sie erzählen. Vielleicht erfuhr sie etwas Neues. An der nächsten Straßenecke erwartete sie ein Gebäude, das vorgab, ein römischer Tempel zu sein.
»Bill war ein guter Vater.« Phyllis nahm einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. »Er hat seine eigene Investmentgesellschaft und ist damit sehr erfolgreich. Er hat viele Leute hier im Viertel reich gemacht. Aber sein Sohn war sein Ein und Alles. Erinnerst du dich, Lin, als er ihm die Golfmütze und das Golflätzchen gekauft hat?«
Linda nickte. »Und bis Carol überhaupt schwanger war! Ich plaudere hier ein bisschen aus dem Nähkästchen. Aber sie hat allen davon erzählt. Nicht wahr, Phil?«
»Ja, sie hat viel durchgemacht. Wie lange sie es probiert haben! Dann war es endlich so weit - und was passiert?«
Ellen dachte an Carol, wie sie als Gans verkleidet den Kindern Geschichten vorlas.
»Die arme Frau.« Linda fuhr sich über die Lippen. »Gibt es etwas Schrecklicheres? Da ist das Wunschkind endlich da - und Ende.«
»Es gibt keine Gerechtigkeit«, sagte Phyllis etwas schwerer atmend.
»Überall sind nur Verbrecher«, ergänzte Linda.
Ellen wurde es immer mulmiger zumute. Sie schämte sich! Hatte sie nicht immer geglaubt, dass Will ein Geschenk des Himmels war? Nur die DNA-Probe konnte Klarheit bringen. Sie brauchte sie, dringend.
»Wenn man so lange lebt wie ich«, fuhr Linda nach einer Pause fort, »weiß man, dass man über alles hinwegkommt. Ich habe meine kleine Schwester und meinen Mann verloren. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das überlebe. Aber das Leben macht dich stark. Nur der Tod ist stärker.«
Ellen dachte an ihre Mutter.
Phyllis schüttelte den Kopf. »Das sagt sie immer. Sie redet eine Menge Unsinn.«
»Ha! Dann erzähl du ihr bitte von deinen Meereswellen.«
»Okay.« Phyllis setzte eine ernste Miene auf, während sie wie ein Profiläufer ihre Arme auf und ab bewegte. »Ich hatte mein ganzes Leben in Brooklyn verbracht. Als ich dann mit meinem Mann hierhergezogen bin, nach seiner Pensionierung, konnte ich es nicht glauben. Überall war Wasser, die vielen Inseln, der Ozean. Wir haben es geliebt! Richard fuhr zum Angeln mit dem Boot hinaus, und ich habe ihn begleitet. Auf diesem Boot sind mir immer die besten Ideen gekommen.«
»Ich kann das nicht mehr hören. Bald hat sie es geschafft, dass ich freiwillig ins Wasser gehe.«
»Darf ich mich vielleicht mit unserem Gast unterhalten?«, fragte Phyllis mit gespielter Entrüstung.
»Klar, aber heute bitte die Kurzfassung.« Linda wandte
sich an Ellen. »Ich bin nämlich Italienerin und rede gern. Dummerweise ist sie Jüdin und redet auch gern.«
Phyllis lächelte. »Deshalb sind wir die besten Freundinnen. Niemand kann es mit uns aufnehmen.«
Alle lachten. Jetzt kamen sie an Ellens Auto vorbei und bogen wieder in die Surfside Lane ein.
»Hier meine Theorie über Meereswellen.« Linda breitete die Arme aus. »Böse Dinge sind wie die Wellen. Sie kommen auf dich zu. Du kannst nichts dagegen tun. Das Böse gehört zum Leben wie die Wellen zum Ozean. Wenn du am Strand stehst, weißt du nicht, wann die Wellen gegen die Küste schlagen werden. Aber dass sie kommen, weißt du. Aber du weißt auch, dass sie sich hinterher wieder ins Meer zurückziehen.«
Ellen lächelte und dachte darüber nach. »Da steckt eine Menge
Weitere Kostenlose Bücher