Faunblut
einige Sekunden lang hatte sie seinen wiegenden Seemannsgang mit Fauns geschmeidigem, katzenhaftem Gleiten verglichen.
Der Markt war an diesem Tag beinahe leer gefegt.
Vergangenen Monat hatte die Lady ihre Tributforderungen erhöht. Manche Händler hatten so wenig Ware, dass sie sie auf Tüchern feilboten. Ausgehungerte Straßenhunde drückten sich in der Nähe herum, immer in der Hoffnung, einen Händler bei einer Nachlässigkeit zu erwischen und sich ein Stück Speck oder einen Trockenfisch zu schnappen. Normalerweise saß Ben hier irgendwo auf einer fleckigen Wolldecke und bettelte, bis irgendein Wächter ihn vertrieb. Noch nie war er wegen Herumlungerns verhaftet und ausgepeitscht worden. Auf eine seltsame Art hatte er sogar mehr Narrenfreiheit als die Hunde, was vermutlich daran lag, dass er mit seinen hundert Jahren beinahe so etwas wie ein wandelnder Toter war und niemand eine Gefahr in ihm sah. Marktbesucher und Händler steckten ihm hier und da etwas zu. Jeder Hund wäre auch damit verhungert, aber für Ben schienen die Almosen zum Leben zu genügen. Auch Jade hatte ein Stück Brot für ihn eingepackt. Sie suchte mit dem Blick jede Nische und jeden Winkel ab, aber heute konnte sie die zerlumpte, schmale Gestalt nirgendwo entdecken. Dafür fiel ihr ein anderer Mann auf: Manu vom Schwarzmarkt. Sein langes dunkles Haar war heute zu einem Zopf zusammengefasst. Mit hochgezogenen Schultern überquerte er eilig den Platz. Er wirkte, als wollte er sich kleiner machen, was bei einem Mann seiner Größe seltsam aussah. »He, Manu!«, rief Jade ihm zu. »Hast du Ben gesehen?«
Manu zuckte zusammen und fuhr herum. »Ach, du bist es«, sagte er und spuckte aus. Heute sah er besonders unrasiert aus und sein Blick war gehetzt. »Hast du nichts Besseres zu tun, als nach der alten Krähe zu suchen?«
»Hast du ihn gesehen oder nicht?«
Manu sah sich um. »Such ihn selbst«, meinte er mürrisch. »Vermutlich ist er wieder mal dort, wo es am meisten zu sehen gibt.« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. Ein ungutes Gefühl begann in Jades Magengrube zu pochen.
»Gibt es Ärger?«, fragte sie. »Sind die Patrouillen deshalb unterwegs?«
»Darauf kannst du wetten. Ab heute gibt es Krieg.« Als er ihren verständnislosen Blick sah, senkte er die Stimme. »Hinter dem Palast, beim Adelshaus Necheron im Hinterhof liegt ‘ne Leiche. Und ein Unfall war das nicht.« Manu machte eine bedeutungsvolle Pause. »Diesmal lässt die Lady Köpfe rollen, das garantiere ich dir.«
*
Jade musste nicht lange suchen. Neugierige scharten sich an der Straße, die zu dem kleinen Brunnenplatz hinter einem der Lordpaläste führte. Vorsichtig näherte Jade sich der Ansammlung von Leuten.
Es konnte gefährlich sein, Teil einer solchen Gruppe zu werden, doch heute schien es sicher zu sein. Die Leute – darunter einige gut gekleidete Beamte und viele Diener – waren totenstill. Jade blieb an der Hausmauer stehen und sah sich beunruhigt um, darauf gefasst, jeden Augenblick das Echo zu sehen – versteckt in einer Nische oder einem Torbogen. Doch das einzig Ungewöhnliche, das sie entdeckte, war ein Blauhäher mit rot beflecktem Brustgefieder, der auf einer Dachrinne saß und sich putzte. Blut?
»Haben sie den Toten schon weggebracht?«, flüsterte sie einer Marktfrau zu, die in der Nähe stand.
»Gerade eben«, raunte ihr die Frau zu. »Sie mussten ihn aus dem Brunnen ziehen. Niemand hätte ihn so schnell bemerkt, wenn der Brunnen nicht angestellt worden wäre. Die Leiche, sie … sie hat keinen Kopf mehr.«
Jade schauderte. »Weiß man, wer es ist? Wieder ein Wächter?«
Doch die Marktfrau zuckte nur ratlos mit den Schultern und reckte den Hals. Jade wollte sich weiter nach vorne drängen, doch die Leute vor ihr stolperten zurück und traten ihr auf die Füße. Ehe sie es sich versah, trieb sie mit dem Strom nach hinten. »Kannst du was sehen?«, flüsterte ein Mann einem anderen zu. Der zweite schüttelte den Kopf. Jade sah sich um und entdeckte ein recht stabiles Rohr, das von der Dachrinne zum Boden führte. Sie setzte den Fuß auf die Metallschelle auf. So konnte sie sich so weit hochziehen, dass sie über die Köpfe hinweg zumindest einen kurzen Blick auf den Brunnen erhaschte. Der Anblick drehte ihr beinahe den Magen um.
Die weiße Mittelsäule des Brunnens war mit roten Schlieren überzogen, das Wasser ein einziger roter See. Jäger hatten einen Ring um den Brunnen gebildet und drängten die Leute vom Platz ab. Und hinter
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