Faunblut
Fenster auf die Zehenspitzen. Lange Tische waren an den Wänden aufgestellt, auf einigen von ihnen warteten Waagen und Gewichte auf Ware. Zum Glück war Martyn noch da. Der Beamte – ein rotnasiger Riese in einer Lederschürze – begutachtete gerade die Muräne, die Martyn aus dem Beutel geholt und auf den Tisch gelegt hatte. Sie war so lang wie der Mann groß. Runde weiße Flecken schimmerten auf der dunkelblauen Fischhaut wie Perlenschmuck.
»Nicht übel«, brummte der Beamte, nahm sein Messer und schnitt den Fisch in zwei ungleiche Teile. Das größere Stück warf er in einen Korb, das kleinere – den Kopf und zwei Handbreit des Fischkörpers – schob er Martyn zu.
»So wenig? Das ist fast nur noch der Kopf!«, beschwerte sich Martyn. Der Beamte blickte ihn nur gleichgültig an und wischte das Messer an einem blutgetränkten Lappen ab.
»Neun Zehntel für die Lady. So ist das Gesetz.«
»Aber das ist kein Zehntel Fleisch!«, erboste sich Martyn. »Und ich habe ohnehin mehr Tribut in Kupfer gezahlt, als das Gesetz es vorschreibt.«
Der Beamte schnaubte verächtlich. »Die Lady ist das Gesetz. Wenn du dich beschweren willst, kannst du das gerne mit dem Kerkermeister diskutieren. Sei froh, dass Bootsgesindel wie du überhaupt noch die Erlaubnis zum Fischen hat!«
Jade bemerkte, wie Martyn die Hände zu Fäusten ballte. Sie rannte zur Eingangstür, doch zwei Händler, die mit einem Handkarren das Büro verließen, blockierten den Eingang. Eine halbe Minute später trat Martyn aus der Tür, den kläglichen Rest der Muräne geschultert und die hölzerne Tributmarke in der Hand. Kaum war er vor der Tür, fluchte er aus vollem Herzen. Dann entdeckte er Jade und verstummte.
»Ein Lord wurde ermordet«, rief sie. Martyn riss die Augen auf. »Wo?«
»Erkläre ich dir später. Es gab Verhaftungen. Komm, nichts wie weg hier!«
Martyn stellte keine weiteren Fragen, sondern ergriff ihre ausgestreckte Hand. Gemeinsam überquerten sie den Markt, instinktiv darum bemüht, schnell genug zu gehen – aber auch nicht so schnell, dass es Verdacht erregte. Es war wie ein Blick in die Vergangenheit: Jade sah sich selbst und Martyn vor vielen Jahren. Zwei Kinder, die Hand in Hand zum Hafen liefen. Auch damals war es gefährlich gewesen, den Jägern und Wächtern in die Quere zu kommen, aber sie hatten sich unbesiegbar gefühlt und unsterblich.
Sie schluckte und wünschte sich so verzweifelt wie noch nie, eines Tages alles hinter sich zu lassen und fortzugehen – über das Meer, irgendwohin, wo es keine Genehmigungen, ungerechte Gesetze und Waffen gab. Und noch etwas beschäftigte sie: Bisher waren die Echos nur Eindringlinge gewesen, wie Raubtiere, beängstigend zwar, aber nicht unbesiegbar. Doch nun war eines davon in die gut bewachten Mauern eines Adelspalasts eingedrungen. Jade überlegte: Die Brunnen wurden abends ausgemacht und erst morgens wieder in Betrieb genommen. Der Mord musste also heute Nacht geschehen sein.
Der nächste Gedanke kam ungerufen und passte nur vage ins Bild: Wenn sie richtig vermutete, war auch Faun heute Nacht in der Stadt gewesen.
Schwarzes Feuer
Es waren zwei bange Tage, die auf die Ermordung des Lords folgten. Obwohl die Sonne hervorkam, schien plötzlich ein kalter Hauch durch die Straßen zu wehen. Wachen standen an den Brücken, der Hafen und viele Plätze waren gesperrt. Kein Lord fuhr mehr mit dem Prunkwagen durch die Stadt und die goldene Barke der Lady im Hafen war verwaist. Die Flussleute ankerten im Flussdelta, statt an den Anlegestellen zu bleiben. Zumindest das beruhigte Jade: Martyn war in Sicherheit.
»Die Ruhe vor dem Sturm«, nannte Lilinn die seltsame Stimmung. Sie war fahrig und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Ihre linke Hand war in einen dicken Verband gewickelt, seit sie mit dem Küchenmesser ausgerutscht war.
Wenn Jade aus dem Fenster der blauen Kammer über den Fluss zur toten Stadt hinüberspähte, konnte sie Patrouillen sehen. Doch keine Sperre war undurchlässig genug, als dass die Gerüchte nicht ihren Weg gefunden hätten. Der Lord sei in seinem Bett ermordet worden, hieß es. Sein Kopf wäre der Lady in den Palasthof gelegt worden – als Warnung. Der Lord sei nachts alleine durch die Stadt gegangen, hieß es in anderen Berichten. Die vier Echos seien gefunden und erschossen worden, sagten die einen. Doch die anderen legten die Hand vor den Mund und flüsterten sich zu, dass die Lords sich gegenseitig nach dem Leben trachteten.
»Es wäre nicht das erste
Weitere Kostenlose Bücher