Faunblut
Tandraj ergeben ist.« Sie trat vor und hielt ihr auffordernd die Faust hin. Jade streckte zögernd die Hand aus. Sie zuckte zusammen, als etwas Kleines, Kaltes auf ihre Handfläche fiel und im Licht der Öllampe aufblitzte.
Jade runzelte erstaunt die Stirn. »Ein Spiegelsplitter?«
»Ein Stück aus einem Spiegel der Tandraj-Könige«, sagte die Frau mit einem triumphierenden Grinsen. »Das Einzige, was die Echos als Zeichen erkennen. Wer einen Splitter hat, ist ihr Verbündeter.«
Jade schloss die Finger um die Scherbe. »Wenn ich also auf ein Echo treffe …«
»… wird es dir nichts tun, sobald es sieht, dass du die Scherbe hast«, ergänzte Nell eifrig. »Also trage das Zeichen immer bei dir und verlier es auf keinen Fall.«
Das also hatte Ben gemeint! Jade betrachtete die Scherbe. Sie hatte die Form einer Raute, die Oberfläche war von einem Netz spinnwebartiger Risse durchzogen. Sie war gerade groß genug, dass sich ihr Auge darin spiegelte.
»Woher habt ihr das?«
»Lange gesucht«, sagte die Frau. »Die Lady ließ damals alle Spiegel und alles Silber und Gold aus dem Palast schaffen. Die Edelmetalle schmolz sie ein und verteilte sie als Kriegsbeute an die Lords. Die Spiegel aber zerschmetterten sie und warfen sie in den Fluss. Ben war dabei, er hat uns von dieser Nacht berichtet.
Und er war sogar in der Lage, uns die Stelle am Fluss zu zeigen.«
»Und dann habt ihr die Splitter aus dem Schlamm gefischt«, stellte Jade fest. »Ihr müsst gute Taucher haben.«
Die verstohlenen Blicke der Umstehenden schweiften sofort zu dem kräftigen Mann, der Jade durch den Tunnel geführt hatte. Nun, zu den Flussleuten gehörte er jedenfalls nicht. Jade kannte alle vier Fähren und Familien, aber ihn hatte sie dort noch nie gesehen.
»Und ihr setzt auch die Turbinen außer Gefecht?«, fragte sie.
Die Rebellen nickten.
Eine neue, beunruhigende Möglichkeit machte Jade nervös. »Ihr habt aber nicht vor, die Flussleute anzugreifen, oder?«
Der Mann mit der knarrenden Stimme schüttelte den Kopf. »Die Flussleute brauchen wir noch, auch nach dem Sturm. Sie sind die Einzigen, die alle Strömungen kennen. Es geht nur darum, Zeit zu gewinnen. Die Lady und ihre Gefolgsleute zu verwirren und Unruhe zu stiften. Steine in das Getriebe zu werfen, bis wir alle Verbündeten versammelt haben und der Prinz uns ruft.«
»Sechs Waffenlager sind voll«, setzte Nell hinzu. »Aber noch ist nicht alles für den Sturm bereit.«
Jades Mund wurde ganz trocken. Es passiert wirklich , dachte sie. Und obwohl sie noch bis eben entschlossen gewesen war, den Rebellen zu helfen, bekam sie es plötzlich mit der Angst zu tun.
»Ihr wollt tatsächlich den Palast stürmen?«, flüsterte sie. »Wann?«
Die mausgesichtige Frau musterte sie wieder, als wäre sie sich nicht mehr sicher, ob sie diese Information herausgeben sollte.
»Sobald wir den Prinzen gefunden haben«, sagte sie gedehnt. »Oder er uns. Ohne ihn und die Echos haben wir keine Chance.«
Jade schluckte. Die Scherbe schien in ihrer Hand zu brennen.
»Und was ist mit den Lords? Wollt ihr sie alle umbringen?«
»Nicht alle. Aber Lord Minem war strategisch wichtig«, erklärte Nell. »Er war es, der die Jäger organisiert hat. Der neue Befehlshaber ist jünger und nicht so erfahren wie er. Das bringt Unruhe in das Gefolge der Lady. Wir müssen an den Grundfesten rütteln, damit das Gebäude ins Rutschen kommt.«
»Ihr redet, als wäre das ein Strategiespiel«, sagte Jade leise. »Warum mordet ihr? Warum nehmt ihr keine Gefangenen?«
»Weil sich dieser Krieg nicht anders gewinnen lässt!«, rief die Anführerin. Ihre Augen funkelten. »Wo hast du gelebt, Prinzessin?«, spottete sie. »In der Puppenstube? Ist es dir lieber, dass sie dich töten?«
Moira hat mich nicht getötet , dachte Jade. Sie hat mir sogar geholfen.
»Sie haben über zwanzig Unschuldige verhaftet! Die Galgen stehen schon für ihre Hinrichtungen bereit. Und jeder von uns hat Tote zu beklagen oder Familienmitglieder, die in den Kerkern einfach verschwunden sind.« Rote Flecken erschienen auf ihren Wangen, so sehr hatte sie sich in Rage geredet. Jedes ihrer Worte unterstrich sie mit temperamentvollen Gesten, und ihre Stimme gehörte nicht mehr einer unscheinbaren, misstrauischen Frau, sondern einer Kämpferin. Jade musste widerwillig zugeben, dass die Rebellin sie beeindruckte. »Meine Schwester ist auf der Gefängnisinsel«, schloss sie. »Keiner weiß, ob sie noch lebt. Und warum? Ein Lord war der Meinung,
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