Faunblut
mehrere Wände drang und vom Fahrstuhlschacht verstärkt wurde. Jay. Er war allein. Das Heulen wurde zu einem Laut, der einem Knurren entfernt ähnelte, und es polterte, als würde die Bestie gegen Wände anrennen. Jade begann zu rennen und atmete erst wieder auf, als sie das Zimmer erreicht und die Tür hinter sich verschlossen hatte.
Im Zimmer war es dunkel, doch Jade machte kein Licht, sondern ließ sich einfach dort, wo sie stand, zu Boden sinken und schlang die Arme um die Beine. Nach einer Weile beruhigte sich ihr Atem und sie, konnte wieder klarer denken. Mit aller Kraft versuchte sie, sich an die Gesichter im Wasser zu erinnern. Doch sie waren so verschwommen, dass nur helle Flecken in ihren Gedanken auftauchten. Ob sie sich doch getäuscht hatte? Waren es doch nur Spiegelungen gewesen? Jade schüttelte den Kopf, dann schälte sie die Jacke vom Körper. Schlimm war, dass die Fotografie nass geworden war. Jade ertastete durchweichtes Papier. Sie sprang auf und tappte in das fensterlose Marmorbad. Seit einem Kabelbrand roch es hier stechend nach verschmorten Leitungen. Dort, wo die Lampe hätte sein sollen, ragten nur zwei Kabel aus der Wand, also entzündete Jade die Kerze, die auf einem Berg von geronnenen Wachstropfen neben dem zerbrochenen Spiegel thronte.
Dann zog sie behutsam das Bild aus der Tasche. Es war noch erkennbar, zum Glück! Sie legte es auf ein Bord neben der Tür und strich es glatt, damit es trocknen konnte.
Dann fiel ihr Blick auf die Wanne. Die Kälte steckte ihr immer noch in den Knochen, als hätte sie den Fluss mit sich genommen. Ihre Lippen fühlten sich taub an, und als sie ihre Hände ansah, fiel ihr auf, dass die Fingernägel bläulich verfärbt waren.
Der verrostete Hahn spuckte rotbraune Brühe aus. Jade wollte die Hoffnung schon aufgeben, als plötzlich frisches Wasser in die geschwärzte Wanne schoss. Dampf stieg auf. Heißes Wasser! Schlotternd beobachtete sie, wie die Wanne halb voll lief. Es kostete sie Überwindung, bevor sie sich traute, auf die Oberfläche zu sehen. Ob ich auch Asche ins Wasser streuen soll wie die Lady in ihren Wein? , dachte sie. Damit es zu trüb für eine Spiegelung wird?
Doch diesmal war es nur sie selbst mit blau gefrorenen Lippen und nassem Haar. Aufatmend stieg sie in die Wanne. Die Hitze umfloss sie wie ein Seidenmantel. Jade schloss die Augen und fühlte, wie das Leben in ihre Gliedmaßen zurückströmte. Das Blut begann, in ihren Fingerspitzen und Lippen zu prickeln, und sie tauchte unter und genoss die Wärme, die das Eiswasser von ihrem Kopf spülte. Lilinn und Jakub, der Winterprinz und die Rebellen – für einen wohltuenden Moment waren sie alle unendlich weit entfernt. Unter Wasser hörte sie plötzlich das dumpfe Zuschlagen einer Tür. Tam und Faun sind zurück , dachte sie. Hatte Jay gespürt, dass Faun wiederkam, und deshalb in seinem Käfig gewütet? Faun! Am liebsten wäre sie aus der Wanne gesprungen und zu ihm gelaufen. Sie tauchte auf und rieb sich das Wasser aus den Augen.
Ihre Spiegelung trieb vor ihr, strich sich ebenfalls das Wasser aus den Haaren. Alles so, wie es sein sollte.
Oder doch nicht? Jade runzelte irritiert die Stirn. Etwas stimmte nicht. Das Bild war irgendwie verdreht.
Im Erdgeschoss fiel eine weitere Tür zu. Jay heulte auf und verstummte dann abrupt. Und vor Jade bewegte sich das Wasser. Ihr Spiegelbild glitt zum Wannenrand, wurde länger und … tauchte auf! Jade schrie auf und stieß mit dem Rücken gegen die Stirnwand der Wanne. Entsetzt starrte sie das Unfassbare an: Wasser sprudelte vor ihr, dehnte sich aus und nahm Form an. Eine Gestalt erhob sich aus dem Wasser, ein Kopf, Schultern, transparente Arme und Brüste.
Eine fließende Skulptur saß ihr gegenüber – ihr Ebenbild.
Die Kerzenflamme flackerte, und Jade durchzuckte die Panik, sie würde gleich im Dunkeln sitzen, dem Wesen aus Wasser ausgeliefert. Tam rief etwas, das Jade nicht verstand. Nur dass es ein Befehl war, hörte sie. Schnelle, schwere Schritte erklangen.
Das Spiegelbild beugte sich vor und würgte einen Schwall Wasser aus dem Mund. Jedes Haar an Jades Rücken sträubte sich. Es gurgelte, als das Mädchen mühsam versuchte, etwas zu sagen. Verzweiflung verzerrte die Züge.
»Rufer«, sprudelte sie kaum verständlich heraus. Das heißt, sie hatte das Wort gar nicht gesagt. Es war unmöglich: Wasser floss aus ihren gläsernen Nasenlöchern, sie hustete und spuckte. Ihre Stimme – oder eher die Ahnung einer Stimme – hörte Jade
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