Faunblut
Angewohnheit, alles um sich zu verändern wie ein Magnet, der bestimmte Dinge anzog und andere abstieß. Stühle und andere Möbel standen wie eine Herde, die sich verschreckt zusammendrängte, in einer Ecke. Der Teppich warf Falten wie ein Bergmassiv, das man auf dem Weg zum Bett erklimmen musste. Und an den Wänden aufgereiht standen die Kostbarkeiten, die Jakub hütete wie einen Schatz: Drei kunstvoll verglaste Fenster, die er, um sie vor Schüssen und Explosionen zu schützen, ausgehängt und in seinem Zimmer in Sicherheit gebracht hatte. Jade sah sich selbst im Glas – drei blasse junge Frauen, deren Augen wie im Fieber leuchteten. Dichte, nasse Locken umrahmten die Gesichter und ließen sie noch schmaler erscheinen. Und sie sah dreimal ihren Vater, der die Kratzwunde an ihrem Arm, ein Halbrund wie ein rotes Lächeln, mit einem nassen Tuch reinigte. Die Hand, die sie sich an der Scherbe verletzt hatte, pochte unter dem Tuch, das Jakub ihr als Verband umgebunden hatte. Der Schock wirkte nach, richtige Schmerzen spürte sie noch nicht.
»Es ist nur ein Kratzer«, murmelte er. »Und morgen gehe ich zum Präfekten der Lady und sorge dafür, dass Tam und seine Bestie nie mehr in deine Nähe …«
»Hör auf damit«, sagte Jade leise. Zu ihrer Überraschung verstummte Jakub.
»Stimmt es, was Tam vermutet?«, fragte er nach einer Weile. »Du warst im Fluss?«
Jade nickte. Und dann sprudelte die ganze Geschichte aus ihr heraus: Sie erzählte von ihrem Spiegelbild, das ihr, solange sie denken konnte, zuwinkte. Von den Händen in der Strömung und von ihrem Ebenbild.
»Ich dachte so viele Jahre, das sei ich«, sagte sie schließlich. »Aber ich bin es gar nicht! Es ist jemand anderes.«
Ihr Vater sah sie mit großen Augen an, dann senkte er hastig den Kopf und schlug die Hand über die Augen. Sein Mund verzerrte sich, und Jade brauchte eine ganze Weile, bis sie verstand, was hier geschah. Und als sie es begriff, erschütterte es sie mehr als alles, was sie an diesem Tag erlebt hatte. Noch nie hatte sie ihren starken, jähzornigen Vater weinen gesehen. Seine breiten Schultern bebten unter lautlosem Schluchzen. Tränen rannen über sein glatt rasiertes Kinn und hinterließen dunkle Flecken auf seinem Lederhemd.
»Großer Gott«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Warum hast du mir nie etwas gesagt?!«
Jade war es, als könnte sie die Kälte der Wila wieder fühlen. »Du weißt, wer sie ist, Jakub?«
»Nur dein Spiegelbild«, gab er gepresst zurück. »Aber du hast völlig recht. Du selbst bist es nicht.«
»Sondern … ein Echo?«
Er nickte und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Sie können sich dein Spiegelbild leihen«, sagte er heiser. »Sie nutzen die Magie der tiefen Strömungen, ganz unten im Fluss. Deshalb ist die Wila gefährlich.« Er schluckte schwer. »Tam hat recht. Du hast sie berührt. Und dann hast du mit dem Strömungswasser ihre Fährte in das Larimar gebracht. Tams Bestie hat sie gewittert.«
Seine Stimme hallte wie aus großer Entfernung in ihrem Bewusstsein. Sie versuchte zu verstehen, was seine Worte bedeuteten, aber im Augenblick kristallisierte sich nur eine Erkenntnis heraus: Ihr Vater, dem sie mehr vertraute als jedem anderen, hatte sie jahrelang belogen.
»Du hast die ganze Zeit über die Echos Bescheid gewusst«, sagte sie tonlos. Jakub wischte sich die Tränen ab und senkte schuldbewusst den Blick. Sein Arm schloss sich um ihre Schultern, aber er starrte dabei so grimmig in den Spiegel, als würde er etwas sehen, das Jade verborgen blieb.
»Du hast behauptet, du würdest dich an nichts erinnern«, rief Jade und machte sich heftig aus seiner Umarmung los. »Du hast mir als Kind eingebläut, niemals im Fluss zu schwimmen und nicht einmal das offene Wasser zu berühren, und wusstest die ganze Zeit, dass die Echos mitten unter uns sind!«
»Ich wünschte, ich hätte sie wirklich vergessen!«, rief Jakub leidenschaftlich. »Und glaub mir, ich habe es versucht. Aber sie kamen wieder. In meinen Albträumen, jede Nacht. Sie sind … Geister. Unglücksboten. Damals im Winterkrieg hat die Lady sie in den Fluss gejagt. Ihre Körper starben, aber ihre Seelen konnte sie nicht töten. Sie lauern darauf, herausgerufen zu werden. Nur wenige können sie sehen, Jade. Ich sehe sie nicht, und ich wusste nicht, dass du sie wahrnimmst.«
Noch nie hatte Jade sich so betrogen gefühlt. Da hatte sie ihre Erklärung, auf die sie so lange gewartet hatte. Sie hätte erleichtert sein
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