Fear
konnte er sehen, dass die Doppeltür fest geschlossen war. Ein schwaches, unstetes Licht drang aus drei kleinen Fenstern, aber das Glas war undurchsichtig. Er konnte nichts erkennen.
Dann stellte er fest, dass das gleiche flackernde Licht auch über dem Gebäude zu sehen war. Joe trat ein paar Schritte zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen und konnte gerade eben die Kante eines Oberlichts ausmachen. Er hätte nicht weiter darüber nachgedacht, wenn der Leichenwagen nicht so dicht vor der Wand gestanden hätte, dass er eine ideale Trittleiter darstellte.
Das ist Wahnsinn , rief die Stimme der Vernunft in seinem Kopf, als er auf das Auto stieg. Er achtete darauf, die Karosserie nicht zu verbeulen und nirgendwo Fingerabdrücke zu hinterlassen. Es gelang ihm, fast geräuschlos hinaufzuklettern; nur als er sich von dem Wagen abstieß, gab es ein dumpfes, metallisches Fump.
Das Flachdach war mit Filz verkleidet und mit einer Splittschicht belegt. Unmöglich zu überqueren, ohne dass es laut knirschte. Nur indem er sich ganz am Rand des Dachs hielt, konnte er gefahrlos bis auf rund dreißig Zentimeter an das Oberlicht herankommen. Direkt dahinter mündeten zwei Entlüftungsschächte, in denen Ventilatoren surrten.
Behutsam ging Joe in die Knie und beugte sich vor, gerade so weit, dass er durch die Scheibe spähen konnte. Wie er schon aus der Doppeltür geschlossen hatte, war dies der Raum, in den die Leichen zum Herrichten gebracht wurden. Er war voll mit Gerätschaften aus glänzendem Edelstahl: Tische zum Einbalsamieren, hydraulische Rollwagen zum Transport der Särge, Ausgussbecken und eine Reihe von Kühlkammern, die wie übergroße Aktenschränke aussahen.
Das eigenartige Licht erklärte sich durch die Tatsache, dass nur eine der Leuchtstoffröhren im Raum eingeschaltet war; zusätzlich brannte ein halbes Dutzend Kerzen, die in regelmäßigen Abständen um den einzigen im Gebrauch befindlichen Tisch aufgestellt waren. Der warme, pulsierende Schein wirkte in dieser kalten, sterilen Umgebung völlig fehl am Platz. Bei dem Anblick schüttelte es ihn vor Abscheu, noch ehe er Derek Cadwell entdeckte.
Der Bestatter war mit der Leiche eines ausgemergelten alten Mannes beschäftigt – möglicherweise eines Landstreichers, nach dem Haufen zerrissener Kleider zu schließen, der auf dem Fliesenboden lag. Der Mann hatte schmutzige graue Haare, ihm fehlten einige Zähne, und sein Gesicht wie auch sein Körper waren voller Blutergüsse.
Cadwell trug einen Einmal-Overall aus Polypropylen mit Handschuhen und Maske. Die tanzenden Schatten spielten auf seinem rosigen, glänzenden Schädel, und im ersten Moment fühlte Joe sich an eine mittelalterliche Grabräuberszene erinnert oder an den guten alten Frankenstein, der an seinem Monster werkelte.
Es war halb zwölf Uhr abends. Was zum Teufel ging hier vor?
Joe konnte nur mutmaßen, dass ein Obdachloser tot aufgefunden und hierhergebracht worden war; allerdings hätte er in diesem Fall mehr Aktivität erwartet. Wo war die Polizei, wo waren die anderen Mitarbeiter des Bestattungsinstituts, die sich um den Papierkram zu kümmern hatten?
Er rückte ein paar Zentimeter zur Seite, um die Leiche besser sehen zu können. Die Füße des alten Mannes waren geschwollen und übel zugerichtet, mit einer Kruste aus getrocknetem Blut überzogen. Vielleicht war ihm ein Auto darübergefahren, dachte er; dafür sah der restliche Körper aber relativ unversehrt aus. Ein sehr ungewöhnlicher Verkehrsunfall, wenn es denn einer gewesen war.
Er überlegte, die Polizei anzurufen. Nur um sicherzustellen, dass alles mit rechten Dingen zuging. Aber er wusste, dass man einem anonymen Anruf um diese Uhrzeit an einem Samstagabend keine hohe Priorität einräumen würde: Man würde automatisch einen schlechten Scherz eines Betrunkenen vermuten.
Und was genau wollte er denn melden? Als Inhaber des Bestattungsinstituts hatte Cadwell das Recht zu arbeiten, wann immer es ihm passte. Dass der Anblick so verstörend war, lag wohl eher an dem, was Alise Joe über Cadwell erzählt hatte. Aber Beweise gab es dafür keine. Und Alise war verschwunden.
Unter ihm holte Cadwell jetzt eine Flasche mit einer Flüssigkeit – vielleicht ein Desinfektionsmittel. Sein Kopf wackelte auf und ab, als ob er mit jemandem redete. Joe versuchte seine Haltung zu korrigieren, verlor aber das Gleichgewicht und knallte mit dem Knie auf das Dach. Cadwell reagierte sofort, sein Blick ging hinauf zum Oberlicht …
Der Transit
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