Fear
Es war warm und salzig und verschaffte ihr kaum Erleichterung.
Sie erkundete die Konturen des Nagels mit den Fingern. Er war sieben oder acht Zentimeter lang und c-förmig verbogen.
Ein Geschenk des Himmels. Jetzt hatte sie ein Werkzeug, mit dem sie arbeiten konnte.
Sie hielt den Nagel wie einen Dolch, schob die Hand in die Öffnung, rammte die Spitze in die äußere Platte und hackte und bohrte, während das Blut weiter aus der Wunde in ihrer Handfläche strömte und die ganze Hand pochte wie ein vereiterter Zahn.
Sie stieß einen Schrei aus, als der Nagel die Gipskartonplatte durchschlug. Als sie sich hinkauerte und durch das innere Loch spähte, erblickte sie etwas Bemerkenswertes: einen winzigen, schwachen Lichtpunkt.
Sie war durchgebrochen.
Dann merkte sie, dass da außer dem Licht auch ein Geräusch war. Es schien wie ein Echo ihres eigenen wilden Herzschlags: ein lebendiges, atmendes, pumpendes Geräusch, tief und vibrierend. Die Wunde in ihrer Hand hatte zu bluten aufgehört, ehe sie sich zusammengereimt hatte, was es war – und die Ironie traf sie schärfer als der Stich des Nagels.
Es war Wasser. Wasser in gewaltigen Mengen, das schnell und sehr nahe vorbeifloss – und doch für sie absolut unerreichbar.
70
Leon spürte das Geräusch mehr, als dass er es hörte – ein Vibrieren, das sich durch das Bett übertrug, so anhaltend, dass er schon an ein kleines Erdbeben glaubte. Erst als das Ganze sich wiederholte, hob er den Kopf und erkannte es als Donner, irgendwo in weiter Ferne.
Er ließ sich wieder aufs Kissen sinken und blieb reglos liegen, bis sein Entschluss gefasst war. Als er aufstand, war sein Kopf klar. Er hatte das Gefühl, sich freier zu bewegen, als ob er von einer physischen Last befreit wäre.
Er war wieder in seinem eigenen Revier. Die Ereignisse von gestern waren abgehakt, ohne Bedeutung. Er wusste, was er zu tun hatte.
In der Dusche ertappte er sich dabei, wie er mit bewusster Ironie »London Calling« von The Clash sang. Er schmetterte den Refrain, während er überlegte, wie er es Danny Morton heimzahlen würde.
Um acht tappte er nach unten und machte eine Runde durchs Erdgeschoss. Alle paar Minuten grollte der Donner in der Ferne wie ein Hund, um den sich niemand kümmert.
Fenton war noch nicht aufgetaucht, aber Glenn war schon auf und schleimte um Pam herum. Leon holte sich einen Saft und zwei Schokocroissants, dann zog er sich mit Glenn ins Büro zurück.
»Was gibt’s Neues?«, fragte er.
»In der Notaufnahme haben sie Todds Nase zusammengeflickt. Er wird noch ein oder zwei Wochen ziemlich bescheuert aussehen.«
»Also eigentlich wie immer.«
»Es ist mehr der verletzte Stolz als irgendetwas sonst. Bei Reece genauso.«
»Idioten«, murmelte Leon. Aus Vennings Darstellung ging klar hervor, dass die beiden den Streit mit Joe gesucht hatten. »Aber was hat Joe eigentlich im Keller gemacht?«
»Wollte sich kurz aufs Ohr hauen, sagt Kestle.«
»Das kauf ich ihm nicht ab.« Leon schlang ein halbes Croissant hinunter, ehe er fortfuhr. »Ich will, dass du seinen Transporter von einem Mechaniker durchchecken lässt. Wenn irgendjemand vor Kurzem am Motor gearbeitet hat, müsste man das erkennen können.«
»Du glaubst, dass er sich die Geschichte mit der Panne aus den Fingern gesogen hat?«
Leon nickte. »Und ruf Reece an. Sag ihm, er und Todd sollen so bald wie möglich hier antanzen. Ich will, dass alle anderen heute Vormittag das Feld räumen. Nur die beiden und Bruce.«
Glenn stand noch eine Weile herum und hoffte auf eine Erklärung. Als Leon keine lieferte, sagte er: »Bist du sicher, dass du Reece und Todd so bald wieder hier haben willst?«
»Ja.« Leon grinste. »Ich werde ihnen ein ganz besonderes Vergnügen bereiten.«
Joe hatte seinen Wecker auf sieben Uhr gestellt, doch als das Ding zu piepsen begann, stellte er es ab und schlief wieder ein, nachdem er vage registriert hatte, dass ein Gewitter heraufzog. Der Donner sickerte in seine Träume ein, verwandelte sich in das Poltern von Steinmauern, die rings um ihn zusammenfielen …
Er erwachte in kalten Schweiß gebadet, setzte sich auf und wartete, bis der Schreck nachließ. Er war sich nicht sicher, ob er zur Arbeit gehen sollte, doch er duschte und rasierte sich und ging dann zum Frühstück nach unten. Es war fast acht Uhr, und Diana schien erleichtert, ihn zu sehen.
»Ich wusste nicht, ob ich dich wecken sollte.«
»Ich muss heute erst später dort sein«, antwortete er. Er hatte ihr ebenso wenig
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