Fear
vielleicht mehr. Der Gestank nach menschlichen Exkrementen war entsetzlich.
Von ihrem Essen war längst nichts mehr übrig; die Flasche Evian, die sie sich in winzige Schlückchen eingeteilt hatte, war nur noch eine köstliche Erinnerung. Ihre Lippen waren so trocken und geschwollen, dass es jedes Mal wehtat, wenn sie den Mund schloss.
Sie verspürte keinen Hunger mehr. Sie hatte das Stadium des Hungers hinter sich gelassen. Was sie empfand, war eine Leichtigkeit, die sich durch ihren ganzen Körper ausbreitete, ein Gefühl, als ob sie gar nicht mehr existierte. Sie trieb dahin wie ein Ballon, im Geiste fast schon losgelöst von der realen Welt … denn sie hatte den Sinn seiner merkwürdigen Unterscheidung begriffen.
Ich habe sie nicht umgebracht. Sie ist gestorben. Das ist ein Unterschied.
Und den Sinn der Warnung, die er hinzugefügt hatte:
Das wirst du noch lernen.
Er würde nicht wiederkommen. Er würde sie hier sterben lassen.
Nicht einmal das Wissen, dass er sie ihrem Schicksal überlassen hatte, konnte sie noch emotional bewegen. In ihren klareren Momenten begriff sie, dass es an ihrer körperlichen Schwäche lag, dem Mangel an Essen und Wasser, der sie ihrer Willenskraft beraubte.
Und doch war es nicht immer so gewesen. Es hatte eine Phase gegeben – viele Stunden war das jetzt her –, da hatte sie erstaunliche Reserven an Energie und Entschlossenheit mobilisieren können. Die Enttäuschung, nach dem mühevollen Graben durch das Ständerwerk auf massiven Fels zu stoßen, hatte sie bald überwunden; sie hatte sich der Herausforderung gestellt, das Problem zu analysieren, und war zu einer Lösung gelangt.
Ihre Schlussfolgerung, geradezu genial in ihrer Schlichtheit, war, dass sie es an einer anderen Wand versuchen sollte. An der Wand mit der Tür. Die Vermutung lag nahe, dass sich hinter der Tür irgendein Zugangsweg befinden musste, denn wie sollte ihr Entführer sonst herein- und hinausgelangen?
Die Idee hatte ihr die nötige Kraft verliehen, den Gipskarton erneut zu attackieren, wobei sie die gleiche Methode anwandte wie zuvor: eine Stelle abwechselnd mit schmutzigem Wasser befeuchten und dann wie wild graben mit der Batterie und – eine weniger gute Idee – auch mit den Fingern. Inzwischen hatte sie schon mehrere Fingernägel eingebüßt, und bald waren ihre Hände völlig zerkratzt und blutverschmiert, aber immerhin hatte sie ein kleines Loch in die innere Platte brechen können, ehe die Erschöpfung und das Delirium einsetzten.
In den Stunden danach hatte sie zusammengesunken an der Tür gelehnt, mit einer Hand den Rand des Lochs umklammernd, als ob sie auf die Anweisung wartete, sich wieder an die Arbeit zu machen – eine Anweisung, die nie kam.
Dann war sie wach. Es war kein allmähliches Auftauchen aus dem Dämmerzustand – mit einem Schlag war sie sich ihrer Umgebung und ihrer fatalen Lage in aller Klarheit bewusst. Wenn sie nicht bald etwas Trinkbares fände, würde sie sterben.
Der Gedanke ließ ihr Herz wie wild pochen, als ob sie gerade um ihr Leben gerannt wäre. Die letzten Reste von Adrenalin verschafften ihr einen Energieschub, und den musste sie irgendwie ausnutzen.
Jenny fand die Taschenlampe, doch der zweite Satz Batterien war längst leer. Sie kniete sich auf den Boden und tastete in der Dunkelheit, bis sie sich genau auf der Höhe des neuen Lochs positioniert hatte. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, holte sie mit der Taschenlampe aus und schlug mit aller Kraft auf die Wand ein, bis der Gipskarton nachgab und ein Loch darin klaffte, das groß genug für ihre Faust war.
Die Taschenlampe war bei der Aktion zerbrochen, aber das war nebensächlich. Sie schob ihre Hand in den Hohlraum und zerrte das Dämmmaterial heraus, warf die Fasern über ihre Schulter und arbeitete sich in einen regelrechten Rausch. Diese neu gewonnene Kraft könnte jeden Moment wieder versiegen.
Plötzlich ein scharfer Stich – ihr stockte der Atem. Als sie ihre Hand herauszog, tastete sie einen Gegenstand, der aus der Handfläche ragte. Da sie nichts sehen konnte, befühlte sie ihn vorsichtig mit der anderen Hand und identifizierte ihn als einen Nagel. Sie konnte nicht feststellen, wie tief er eingedrungen war, doch sie wusste, dass sie ihn entfernen musste.
Der Schmerz war wie ein heißer, feuchter Blitz. Sie spürte, wie Blut aus der Wunde floss, und presste instinktiv die Hand an den Mund. Sie musste gegen den Ekel ankämpfen, als sie ihre ausgetrockneten Lippen mit dem Blut benetzte.
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