Fear
…
Er packte die Taschenlampe mit festem Griff und richtete sie direkt vor sich. Der Tunnel lief offenbar durch irgendeinen kleinen Zufluss langsam voll, doch der Fluss über ihm dröhnte wie ein Güterzug. Joe fragte sich unwillkürlich, wie stark wohl die Felsschicht war, die die Wassermassen zurückhielt. Jeden Moment könnte diese Öffnung überschwemmt werden, und dann würde der Tunnel binnen Sekunden volllaufen.
Er fluchte leise vor sich hin. Daran durfte er gar nicht denken …
Dann erfasste der Lichtstrahl in rund sechs Metern Entfernung eine Kontur: eine gerade Kante, von Menschenhand geschaffen. Es war die Ecke von Leons Tresorraum.
Joe arbeitete sich durch das Wasser vor, spürte den Druck der Strömung. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, prickelte in seinen Haaren und rann ihm den Nacken hinunter. Wenn er ausrutschte und untertauchte, würde es nicht das Hochwasser sein, das ihn umbrachte, sondern die Panik.
Dann stieß etwas gegen seinen Bauch. Eine Ratte? Treibgut, das aus dem Fluss hereingespült worden war?
Mit pochendem Herzen richtete er die Taschenlampe nach unten und sah etwas schmutzig weiß schimmern, etwas Langes, Glattes, das auf dem Wasser trieb. In seiner Polizeilaufbahn hatte er alle möglichen grausigen Funde miterlebt, und deshalb wusste er sofort, was er hier vor sich hatte.
Es war ein Knochen. Ein menschlicher Oberschenkelknochen.
84
Jetzt ist es so weit – die Attacke hat begonnen , dachte Leon, als er die Haustür aufriss. Merkwürdigerweise empfand er dabei Erleichterung.
Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer der Feind war. Es könnten Cadwells Leute sein oder die Polizei – oder gar Danny Morton. Wer immer es war, Leon stellte sich auf einen Kampf auf Leben und Tod ein. Reece und die anderen waren nicht zurückgekommen. Es war niemand mehr da, dem er vertrauen konnte. Sein Haus brach ihm über dem Kopf zusammen. Warum dann nicht wenigstens mit fliegenden Fahnen untergehen?
In weiser Voraussicht hatte er sich die Glock geschnappt. Es war ein Nachbau, ein harmloses Replikat, aber Joe hatte sich neulich davon narren lassen. Vielleicht könnte er damit wenigstens ein bisschen Zeit gewinnen.
Leon ließ Fenton im Videoraum zurück, eilte hinaus und sah sich einem einzigen Mann gegenüber. Einem nicht mehr ganz jungen Mann in Wanderklamotten, der einen Kricketschläger schwang. Mit dem Ding hatte er die Kamera über der Tür zertrümmert, und nun ging er damit auf Leon los, ein irres Grinsen im Gesicht. Es war Patrick Davy, der Aussie, der mit Cadwell im Streit lag, weil er sich weigerte, die Galerie zu verkaufen.
»Du hast versucht, mich umzubringen, du Dreckschwein!«, brüllte er und ließ den Schläger, den er mit beiden Händen gepackt hielt, niedersausen. Leon wich zur Seite aus, doch der Schläger traf seine Pistolenhand mit voller Wucht – er spürte, wie die Knochen in seinem Handgelenk brachen, und weißglühender Schmerz durchzuckte ihn.
Leon schrie auf. Er sah, wie Davy mit dem Schläger zum nächsten Hieb ausholte, und warf sich auf ihn, wobei er seine Größe und sein Gewicht einsetzte, um den älteren Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als Davy strauchelte, prügelte Leon mit der linken Faust auf ihn ein, nicht besonders gezielt, aber brutal, so lange, bis Davy den Schläger fallen ließ, seine Beine nachgaben und er zu Boden ging.
Joe arbeitete sich durch den Tunnel voran, kämpfte gegen Ekel und Klaustrophobie an. Der Strahl der Taschenlampe strich über das Wasser und ließ weitere Trümmerteile, weitere Knochen aus dem Dunkel auftauchen. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu dem Tresorraum, der aus einer offenbar natürlichen Felsnische hervorragte. Wie Glenn gesagt hatte, war die Tür mit einem Vorhängeschloss gesichert, das jetzt nur noch ein paar Zentimeter über der Wasseroberfläche war.
Und Glenn hatte noch in einem anderen Punkt recht gehabt: Es sah tatsächlich aus wie eine Zelle.
Joe versuchte sich einen Moment lang auszuruhen. Der Druck des Wassers machte es ihm zunehmend schwer, sich auf den Beinen zu halten. Er stützte sich an der Seitenwand des Tunnels ab und warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass der Ausgang noch frei war. Doch der Strahl der Taschenlampe wurde von einer noch viel tieferen Dunkelheit zu seiner Rechten verschluckt. Da war noch eine weitere Öffnung im Fels – eine Kammer, mindestens einige Meter tief.
Joe zitterte so heftig, dass er die Taschenlampe kaum ruhig halten
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