Fear
konnte. Er leuchtete in die Kammer und sah sie sofort.
Kamila.
Das Wasser war bis über ihre Hüfte gestiegen, und die Wellen klatschten ihr schon fast an die Brüste, doch Jenny spürte es nicht. Sie spürte gar nichts mehr, sehnte sich nur danach unterzutauchen, ihre Lunge mit Wasser zu füllen und dem Ganzen ein Ende zu machen. Aber sie konnte es nicht. Irgendein primitiver, hartnäckiger Instinkt ließ einfach nicht zu, dass sie aufgab.
Und so stand sie immer noch aufrecht, an die beschädigte Wand gelehnt, und verlor immer wieder für Sekunden das Bewusstsein, als sie plötzlich einen Lichtblitz in der Dunkelheit wahrnahm. Vielleicht eine Halluzination, dachte sie, das Produkt eines sterbenden Gehirns, die letzten verzweifelten Signale, die ihre Synapsen aussandten.
Ein Bild tauchte vor ihr auf: ihre Mutter und ihr Vater, endlich doch alarmiert über ihr Verschwinden nach … wie vielen Tagen oder Wochen? Sie stellte sich die beiden Jahre später vor, wie sie selbst auf den Tod zugingen, zerfressen von quälenden Fragen, die kein Mensch beantworten konnte. Von der Tortur der lähmenden Ungewissheit.
Das Wasser schwappte gegen ihren Körper, als hätte sich irgendetwas der Strömung in den Weg gestellt. Ein Geräusch wie von Kindern in einem Planschbecken. Ein weiterer qualvoller Gedanke krampfte ihr das Herz zusammen: Kinder, die sie nie haben würde.
Sie stieß mit der Stirn gegen die Wand, als könne sie die schlechten Gedanken aus ihrem Kopf herausprügeln. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, und sie betete: So Gott will, wird das mein letzter Atemzug sein.
Die Leiche trieb mit dem Gesicht nach oben im Wasser, nackt, die Haut schwärzlich verfärbt und verwest. Die Bauchhöhle war aufgeplatzt, und die Gliedmaßen hingen nur noch lose am Rumpf. Die Gesichtszüge waren nicht mehr zu erkennen, doch Joe erinnerte sich an das dunkle wellige Haar auf dem Foto, das Alise ihm gezeigt hatte.
Es war Kamila. Sie war wahrscheinlich schon seit Wochen tot, vergessen in ihrer unterirdischen Grabkammer, wo sie vor sich hin moderte. Die Knochen, die er gefunden hatte, mussten von einem viel früheren Opfer stammen. Er kam zu spät. Jetzt musste er nur noch zusehen, dass er hier rauskam, ehe er erfror …
Ein dumpfer Schlag irgendwo hinter ihm, gefolgt von einem Stöhnen. Joes Körper verkrampfte sich. Die Taschenlampe glitt ihm aus den Fingern. Wie ein ungeschickter Jongleur wand er sich und fing sie in der Luft auf, kurz bevor sie auf dem Wasser aufschlug. Das Licht flackerte, doch es ging nicht aus.
Er begriff, dass die Geräusche aus dem Tresorraum gekommen waren. Aus der Zelle. Er drehte sich um, gab acht, dass er nicht ausrutschte, streckte die Hand nach dem Vorhängeschloss aus und hielt sich daran fest, bis er das Gleichgewicht wiedererlangt hatte.
»Hallo?«, rief er mit vor Kälte zitternder Stimme.
Die einzige Antwort war ein weiteres wimmerndes Stöhnen.
»Halten Sie durch. Ich komme und hole Sie da raus.« Joe merkte sich genau die Lage des Vorhängeschlosses, schob vorsichtig den Rucksack auf die eine Schulter, steckte die Taschenlampe ein und nahm den Bolzenschneider heraus. Er wusste, dass er beide Hände für das Manöver brauchen würde, und das hieß, ohne Licht zu arbeiten.
Er tastete nach dem Schloss, das jetzt schon halb unter Wasser war, klemmte den Bügel zwischen die Backen des Bolzenschneiders, packte die Griffe fest und drückte sie zusammen. Das Vorhängeschloss drehte sich, der Bolzenschneider glitt ab und wäre fast ins Wasser gefallen.
Joe atmete tief durch. Nicht so hektisch. Er musste langsam und systematisch vorgehen. Den Tunnel vergessen, das ansteigende Wasser …
Beim zweiten Versuch knackte es leise, und das Vorhängeschloss gab nach. Joe ließ den Bolzenschneider in den Rucksack gleiten, holte die Taschenlampe wieder hervor und schob die Tür einen Spaltbreit auf. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass das Wasser in der Zelle genauso hoch stand wie im Tunnel, drückte er sie noch weiter auf.
Da war eine junge Frau: nackt, durchfroren, halb bewusstlos und doch noch irgendwie aufrecht stehend. Als er in die Zelle trat, wankte sie und glitt in seine Arme. Er packte sie, verlor dabei selbst das Gleichgewicht und stieß mit dem Ellbogen hart gegen den Türrahmen, um sich auf den Beinen zu halten.
Nachdem er sich wieder gefangen hatte, gelang es ihm, den Strahl der Taschenlampe auf ihr Gesicht zu richten. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Haut bläulich verfärbt.
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