Fear
sie schon lange nicht mehr besucht. Wenn er käme, würde sie ihn um neue Batterien anbetteln.
Und sie wusste, dass sie ihm dafür jede erdenkliche Gegenleistung anbieten würde.
Im Augenblick jedoch half ihr die Dunkelheit, sich zu konzentrieren. Sie horchte angestrengt, versuchte das Hämmern ihres Herzens auszublenden. Die ganze Zeit, seit sie in dieser Zelle saß, hatte sie keinerlei Geräusche von draußen gehört; nichts, was darauf hindeutete, dass es da draußen überhaupt eine Welt gab …
Da war es wieder. Ein Schrei. Eine Frau schrie vor Panik und Schmerzen. Es war kein Alptraum, keine Halluzination, es war echt. Es passierte irgendwo außerhalb ihrer Zelle. Irgendwo in der Nähe.
Der Gedanke gab ihrer Zuversicht einen Schub – für eine Sekunde jedenfalls, und dann traf sie die Erkenntnis ihrer wahren Lage wie ein Schlag.
Es bedeutete, dass es noch ein Opfer gab. Noch eine Frau, die das Gleiche durchmachte wie sie.
Jenny weinte um sie, während sie zugleich eine irrsinnige Erleichterung empfand, die sie beschämte.
Denn das hieß auch, dass sie nicht allein war.
Der Mann, der sich als Giles Quinton-Price vorgestellt hatte, nippte an dem Whisky, den Joe ihm bestellt hatte, und sagte: »Und Sie haben also beim allmächtigen König der Prolls angeheuert?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden. Arbeiten Sie für Leon?«
»Du lieber Gott, nein. Ich bin Journalist und schreibe einen Artikel über Trelennan.«
»Einen Reisebericht?«
»Lifestyle mit ausgeprägt politischer Ausrichtung. Für unsere Leser ist dieser Ort die Verkörperung ihrer kühnsten Träume.« Er breitete die Hände aus, als hielte er ein Transparent hoch. »›Die Stadt, die den Rest Großbritanniens beschämt‹. Und das alles nur dank Ihres Kumpels Leon.«
Joe zuckte mit den Achseln. »Ich kenne ihn kaum.«
»Nein? Dann nehmen Sie sich in Acht. Wenn man ihn so sieht, könnte man meinen, er sei kaum mehr als ein Klumpen Abschaum aus der Gosse, der sich das Hirn mit Drogen aufgeweicht hat und dem Staat auf der Tasche liegt, bis er irgendwann im Knast und in einem Armengrab landet.« Er lachte, bis er plötzlich merkte, dass der Barmann sich ganz in der Nähe herumdrückte, vielleicht sogar in Hörweite.
Ein wenig verlegen fügte er eilig hinzu: »Tatsache ist: Was der Mann hier geschafft hat, ist ein reines Wunder. Es existiert praktisch keine Kriminalität. Frauen können nachts unbehelligt auf die Straße gehen. Die Leute schließen ihre Türen nicht ab, sie lassen ihre Wertgegenstände offen herumliegen. Und nicht nur das – es gibt auch keinen Vandalismus, kein asoziales Verhalten. Und es ist sauber .«
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, gab Joe zu. »Man sieht kaum Abfall.«
Giles zog die Brauen hoch, wie um auf eine verborgene Bedeutung hinzuweisen, die Joe eigentlich hätte erkennen müssen. »Es ist ›sauber‹ in mehr als einem Sinn. Um es mal so zu sagen: Es gibt einen auffallenden Mangel an, nun ja, ethnischer Vielfalt. «
Joe stellte sich dumm. »Was?«
»Unter uns gesagt, ist es nicht eine erfrischende Abwechslung vom London unserer Tage, wo man kaum noch ein weißes Gesicht sieht oder einen englischen Akzent hört? Und ich meine nicht nur die weniger vornehmen Gegenden. In Kensington und Chelsea kann man sich doch kaum noch bewegen vor lauter verdammten Arabern, Russen und Gott weiß was noch.« Mit einem angewiderten Seufzer hob er sein Glas und kippte den Whisky hinunter.
Joe holte tief Luft. »Trelennan steht also in Ihren Augen für so etwas wie eine ideale Welt? Ein ›England für Engländer‹?«
Giles warf ihm einen warnenden Blick zu. »Ich würde mich hüten, eine solche Formulierung zu verwenden, aber es stimmt. Auf jeden Fall sehen unsere Leser das so. Das durchschnittliche Ehepaar mittleren Alters, das in seinem kleinen weißen Bungalow in Surrey hockt – aus deren Perspektive ist die Welt ein düsterer und gefährlicher Ort, wo es von feindseligen Ausländern nur so wimmelt.«
»Liegt das nicht nur daran, dass die Zeitungen ihnen das einreden?«
Giles lachte glucksend, als ob er ein Kompliment entgegennähme. »Durchaus. Da haben Sie hundertprozentig recht. Wohingegen Trelennan in der Darstellung meiner Wenigkeit wie das Paradies auf Erden erscheinen wird. Natürlich wissen Sie und ich, dass es auch seine Nachteile hat. Das Essen ist fürchterlich, es gibt keine Theater oder Museen und schon gar kein Nachtleben. Deswegen haben Sie mich auch in diesem … Lokal
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