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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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und goss Alte Krabbe einen Becher ein. Der leerte ihn in einem Zug und hielt ihn Papa wieder hin.
    Mein Vater schenkte ihm nach. Dann fragte er: »Dürfen wir eine Tür mitnehmen?«
    »Wozu denn das?«, brummte Alte Krabbe.
    »Holz ist in der Stadt ein kostbares Gut«, sagte Papa. »Wir könnten die Tür gut als Bett gebrauchen. Vielleicht erinnerst du dich, dass du dir kurz nach unserer Ankunft unser zweites Bett ausgeborgt hast?«
    »Ich brauche alle Türen«, entgegnete Alte Krabbe. Und damit war der Fall erledigt.
    Nach dem Abendessen fuhren Mama, meine Brüder und ich mit dem Packen fort. Mein Vater musste mit Alte Krabbe weitertrinken und sich seine Klagen über Arbeitspunkte und faule Bauern anhören. Um Mitternacht war Alte Krabbe so betrunken, dass er kaum noch ein Wort herausbrachte. Auch waren keine Zigaretten und kein Schnaps mehr da. Alte Krabbe stand auf, torkelte ein paar Schritte rückwärts, fing sich wieder und lallte: »Ich muss jetzt gehen. Morgen ist viel zu tun.« Doch bevor er hinausging, machte er noch eine Runde durchs Zimmer und schaute, was wir eingepackt hatten. Er hob einen Korbdeckel hoch und entdeckte mein Exemplar von
David Copperfield
darin. »Prima Toilettenpapier«, knurrte er, klemmte es sich unter den Arm und stolperte zur Tür hinaus.
    Nur Sekunden später hörte ich draußen Stimmen. Die Stimmen zweier Männer. Zornige Stimmen. Ein Wortwechsel, ein lauter Ruf, dann Stille. Neben der Stimme von Alte Krabbe glaubte ich die von Shuizis Vater erkannt zu haben.
    »Hast du das gehört?«, fragte ich Mama.
    »Was?«
    Wir lauschten, doch alles blieb still. »Du bist müde, Maomao«, sagte Mama. »Morgen haben wir einen langen Tag vor uns. Geh ins Bett.«
    Am nächsten Tag stand ich früh auf und ging zu unserer Latrine. Die Fliegen summten ungewöhnlich laut, und als ich zu den Steintreppen kam, sah ich am Rand des Abwasserlochs etwas Helles – zwei nackte Füße ragten aus dem Becken! Ich rannte in unsere Hütte zurück und erzählte meinen Eltern, was ich gesehen hatte. Sofort alarmierte Mama unsere Nachbarn. Die Nachricht von meiner grässlichen Entdeckung verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und die Dorfbewohner eilten herbei. Manche schnappten nach Luft und wichen zurück. Eine Frau stieß einen langen Schrei aus und fiel auf die Knie. Jigui humpelte auf seinen Krücken herbei.
    Zwei Männer packten den Leichnam an den Knöcheln und zogen ihn heraus. Er war entsetzlich verfärbt, aber anhand der Kleidung und der Kopfform konnten wir Alte Krabbe identifizieren. Kaum lag er neben dem Becken, ließen sich Tausende von Fliegen auf dem starren, fast schwarzen Körper nieder. Die Frau von Alte Krabbe warf sich über ihn und heulte auf. Jigui ließ die Krücken fallen und hockte sich neben den Leichnam. Dann schwenkte er langsam das Kleine Rote Buch über seinem Kopf und schrie: »Hier! Hier! Mein Papa wird dir helfen! Mein Papa ist der Retter des Volkes! Mein Papa macht dich wieder heil!«
    Schweigend starrten die Dörfler Jigui an, fast als glaubten sie seinen Worten – dass das Kleine Rote Buch Leben zurückgeben konnte. Mama half dem Jungen auf, führte ihn beiseite und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Da sie stets nett zu ihm war, hörte er auf sie. Auch jetzt nickte er und lief dann nach Hause, wobei er laut vor sich hin sang: »Alte Krabbe wird wieder heil. Der Vorsitzende Mao ist sein Retter.«
    Ich stellte fest, dass mein Exemplar von
David Copperfield
 – noch ganz sauber – neben dem Leichnam von Alte Krabbe lag. Verstohlen nahm ich es an mich und verbarg es vor den anderen. Als ich mich damit von der Menge entfernte, sah ich Shuizis Vater näher kommen. Während alle anderen schockiert waren, wirkte er ruhig und gefasst.
    »Alte Krabbe ist in unserem Scheißeloch ertrunken!«, platzte ich heraus.
    Ich bin nicht ganz sicher, was ich in dem Moment wirklich gesehen habe, weil gerade ein Strahl der Morgensonne über seine Schulter fiel und mich blendete. Aber ich bilde mir ein, dass er mir zugeblinzelt hat. Kurz darauf kamen zwei Männer zu unserer Hütte und hängten die Türen aus, um daraus einen Sarg für Alte Krabbe zu zimmern.
    Etliche Stunden später traf der Lastwagen ein, der uns nach Wuhu bringen sollte. Ein paar Dorfbewohner halfen uns, das Gepäck zur Hauptstraße zu tragen und im Wagen zu verstauen. Ich kletterte mit meinen Brüdern hinten auf die Ladefläche und schaute auf das Dorf zurück, das fünf Jahre lang meine Heimat gewesen war und dessen Anblick ich mir

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