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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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gab.
    Kurz nach acht begleitete ich dann Papa zur Wohnungsvergabestelle der Universität. Er zeigte einem bürokratisch wirkenden kleinen Mann am Empfangsschalter seine Papiere und die Umzugserlaubnis. Der Mann warf einen prüfenden Blick auf die Papiere und musterte meinen Vater und mich mit unverhohlenem Missfallen. Nachdem er Papa ein paar Fragen gestellt hatte, ging er mit den Papieren zu einer Frau, die im hinteren Teil des Büros an einem Schreibtisch saß.
    Obwohl wir am anderen Ende des Raumes warteten und sie flüsterten, konnte ich ein paar Gesprächsfetzen aufschnappen. »Rechtsabweichler«, sagte der Mann. »Und ein amerikanischer Spion«, ergänzte die Frau. Ich sah zu Papa hoch, doch er lächelte mich an, als hätte er nichts Ungewöhnliches gehört. Dann telefonierte die Frau mit jemandem. Etwa zehn Minuten später kam der Mann mit kühler Miene zurück und warf wortlos Papas Papiere auf den Empfangstresen. Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch. Inzwischen hatte die Frau eine Adresse auf einen Zettel geschrieben und brachte ihn zu uns nach vorne. Papa las die Adresse und dankte ihr. Doch sie rümpfte nur die Nase und ging zu ihrem Schreibtisch zurück.
    Trotzdem war ich begeistert, weil wir ja jetzt eine Wohnung auf dem Campus beziehen würden. Papa und ich wanderten umher und suchten die angegebene Adresse. Ihn verwirrten die Straßennamen und Hausnummern, aber ich war so aufgekratzt, dass ich einfach Fremde auf dem Gehweg ansprach und um Auskunft bat. Die meisten reagierten verdutzt. Sie wollten uns gerne helfen, hatten diese Adresse aber noch nie gehört.
    Am Ende wurden wir fündig und standen vor einer behelfsmäßigen Hütte für die Bauarbeiter auf dem Campus. Die Wände bestanden aus Schilfmatten an langen Bambusrohren, das niedrige Dach war mit Stroh gedeckt, und das ganze windige Konstrukt lehnte an der Campusmauer. Die Tür bildeten ein Dutzend Bambusstangen, die man mit einem Strohseil zusammengebunden hatte.
    Wir waren entsetzt. »Wahrscheinlich haben sie uns eine falsche Adresse aufgeschrieben«, murmelte Papa. Doch auf einem großen Blatt Papier an der Tür stand: »Fakultät für Fremdsprachen, Wu Ningkun.«
    »Es ist kein Irrtum, Papa«, sagte ich zornig. »Aber hier werden wir nicht wohnen. Das ist ja noch schlimmer als in Gao.« Damit riss ich das Blatt Papier von der Tür und zerfetzte es. Papa wollte mich daran hindern, denn es handelte sich immerhin um einen behördlichen Anschlag. Er fürchtete, dass wir Scherereien bekommen könnten.
    Aber zu spät, die Papierfetzen waren schon in alle Winde zerstreut. Ich war den Tränen nahe und brachte kein Wort heraus. Papa sah die Verzweiflung und die Entschlossenheit in meinem Blick. »Gut, Maomao, du hast recht. Hier können wir nicht wohnen.« Und auf dem Rückweg zur Wohnungsvergabestelle sagte er zu mir: »Das Pärchen da drin wird unsere Zuteilung aber nicht ändern. Ich muss mich an jemand Höheren wenden.«
    Im Verwaltungsgebäude machten wir das Büro des Rektors ausfindig. Ein Mann, etwa so alt wie Papa, saß an einem Schreibtisch und las Akten. Doch als er uns sah, stand er auf. Papa stellte sich vor und zeigte ihm seine Papiere. Ohne einen Blick darauf zu werfen, reichte der Rektor ihm lächelnd die Hand.
    »Ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor«, sagte Papa. »Jemand hat mir und meiner Familie einen Schuppen aus Schilf als Wohnung zugewiesen. Aber ich habe drei Kinder. Dort können wir unmöglich wohnen.«
    Der Rektor las den Zettel mit der Adresse, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Papierkorb. Wütend schlug er mit der Hand auf den Tisch. »Du hast völlig recht«, sagte er. »Ein Irrtum. Es tut mir leid. Wirklich absurd! Ich frage mich, ob der Mann, der dir diese Hütte zugewiesen hat, dort leben könnte.«
    »Es war eine Frau«, erwiderte Papa.
    Über das Gesicht des Rektors huschte ein wissendes Lächeln. »Verstehe«, sagte er. Mit strenger Stimme führte er mehrere Telefonate. Schließlich lächelte er uns an. »Ich habe eine bewohnbare Unterkunft für dich gefunden, Lehrer Wu. Willkommen an unserer Universität.«
    Eilig kehrten wir zum Lastwagen zurück. Inzwischen war der Fahrer eingetroffen, und Papa nannte ihm unsere neue Adresse. Als wir dort hielten, murmelte Mama: »Das ist doch eine Kirche!«
    Es war tatsächlich eine Kirche, die man in mehrere Wohnungen unterteilt hatte. Ungläubig starrten meine Brüder und ich auf das hohe Gebäude. Die Grundfläche maß etwa sechs mal fünfundzwanzig

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