Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
für alle Zeiten einprägen wollte. Ich empfand das gleiche seltsame Staunen wie bei unserer Ankunft. War das alles wirklich geschehen? Oder war es nur ein langer Albtraum gewesen, aus dem ich endlich erwacht war? Ich sah, wie mehrere Männer auf das Dach unserer Hütte krochen und Strohbündel und Holz hinunterwarfen. »Schau, was sie da tun«, sagte ich zu Mama.
»In einer Stunde ist nichts mehr von der Hütte übrig«, meinte sie.
Als der Lastwagen losfuhr, stellten sich die Dorfbewohner an den Straßenrand und schauten uns nach. Manche winkten. Wir winkten zurück, bis sie hinter der Staubwolke verschwunden waren.
Eine Stunde später trafen wir an der Anlegestelle der Fähre ein. Unser Lastwagen war der letzte, der an diesem Nachmittag auf die Fähre durfte. Als wir den Yangtze überquerten, standen meine Brüder und ich an der Reling und blickten zum gegenüberliegenden Ufer. Hinter uns ging die Sonne unter, und das Wasser glänzte golden. Keiner von uns sagte ein Wort. Keiner schaute zurück.
Kapitel 45
A m anderen Ufer kletterten meine Brüder und ich wieder hinten auf den Laster und hockten uns zwischen die Bündel mit den Habseligkeiten unserer Familie. Unsere Eltern fuhren vorne im Fahrerhaus mit. Bis zum Campus der Universität waren es nur ein paar Minuten. Überrascht betrachtete ich den starken Verkehr auf der breiten Straße und das lärmende Durcheinander: Lastwagen und Autos rumpelten vorbei, dazu bimmelten ständig Tausende Fahrradklingeln. Sobald wir langsamer fuhren, strömten Fahrradfahrer an uns vorbei wie ein Fluss um einen Felsen. Nur Augenblicke später überholten wir sie dann wieder.
Menschenmassen wogten auf den Gehwegen hin und her und überquerten scharenweise die Straße. Gelbe Laternen erhellten die Nacht, die Fenster der massiven Wohnblöcke leuchteten wie winzige Lichtpunkte. Im Gegensatz zu den nächtlichen Massenaufmärschen der Roten Garden in Hefei wirkten Lärm und Hektik hier nicht bedrohlich. Niemand beachtete uns, die Menschen waren mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt und schienen frei von Angst zu sein – es gab keine organisierten Demonstrationen, keiner skandierte Parolen oder trug Plakate. Kinder gingen an der Hand ihrer Eltern oder rannten neben ihnen her. Ich hatte ganz vergessen, wie strahlend hell, wie harmlos und lebendig Nächte sein konnten. Vor uns lag ein neues Leben, und ich war gespannt darauf.
Inzwischen hatte unser Fahrer den Campus erreicht und parkte neben einem Dutzend anderer Fahrzeuge der Fahrbereitschaft. Er sprang aus der Fahrerkabine, streckte sich, rieb sich die Augen und sagte: »Es war ein langer Tag. Wir sehen uns dann morgen.«
»Wo sollen wir denn heute Nacht schlafen?«, fragte meine Mutter.
»Am besten in der Nähe des Lasters«, erwiderte er schon im Gehen. »Sonst ist von euren Sachen morgen früh nichts mehr da.«
Papa sah Mama an, zuckte die Achseln und fragte: »Was nun?«
»Vor allem sind die Kinder hungrig. Wir müssen etwas zu essen besorgen«, sagte sie. Sie beschlossen, dass Papa beim Laster bleiben und Mama mit uns einen Straßenhändler suchen würde.
Wir gingen durch das Tor des Universitätsgeländes und folgten dem Lärm und den Lichtern zu einer belebten Straße. Ich war barfuß, und der Asphalt unter meinen Sohlen fühlte sich im Vergleich zu den unbefestigten Wegen von Gao merkwürdig an. Mir fiel auf, dass alle anderen Leute, sogar die Kinder, Schuhe trugen.
Fußgänger starrten uns an, und manche wichen uns sogar aus, als fürchteten sie, wir hätten eine ansteckende Krankheit. Ein Mädchen in meinem Alter stand mit ihrer Mutter an einer Bushaltestelle und gaffte mich an. Als wir an ihnen vorbeigingen, sah sie zu ihrer Mutter hoch und sagte: »Schau dir diese Bauerntölpel an, Mama!« Ihre Mutter warf einen kurzen Blick auf mich und meine nackten Füße und runzelte die Stirn.
Bald darauf hatten wir einen Händler gefunden, der Dampfnudeln verkaufte. Ich trat ganz dicht an seinen Stand und sog den Hefegeruch ein. Mama kaufte mehrere Dampfnudeln, gab jedem von uns eine und hob den Rest für später auf. Wir gingen zu unserem Lastwagen, und nachdem wir dort fertig gegessen hatten, schickte Mama uns zum Schlafen in die enge Fahrerkabine. Sie und Papa rollten ihr Bettzeug neben dem Lastwagen auf dem Boden aus.
Wir erwachten bei Tageslicht, hinter dem Campustor nebenan brummte bereits der Verkehr. Als Erstes hielten wir Ausschau nach einem Studentenwohnheim, wo es eine Latrine und fließendes Wasser
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