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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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zusammen. Wir unterhielten uns mit gedämpfter Stimme, denn uns war klar, dass jedes unserer Worte von den anderen Bewohnern mitgehört werden konnte. Und wenn wir schwiegen, bekamen wir die verschiedenen Gespräche ringsum mit. Es dauerte einige Zeit, sich daran zu gewöhnen.
    Mein Bett stellten wir vor die Ziegelwand am hinteren Ende unserer Wohnung. Am Abend lag ich still im Dunkeln und lauschte den Geräuschen anderer Bewohner des Gebäudes, die zu Bett gingen. Als alle Stimmen verklungen waren, hörte ich direkt neben mir ein Geräusch. Es kam von der anderen Seite der Wand, die uns von den Nachbarn trennte. Dort atmete jemand leise, aber schwer. Ich spitzte die Ohren und glaubte, ein Schniefen zu hören.
    Ich flüsterte: »Ist da wer?«
    Das Schniefen hörte auf. Kein Laut war zu hören. Ich setzte mich auf und legte das Ohr an die Schilfmatte.
    Die Stimme eines Mädchens erwiderte: »Ja.«
    »Weinst du?«, wisperte ich.
    »Nein«, kam es gepresst zurück. Dann: »Ihr seid heute eingezogen, stimmt’s?«
    »Ja.«
    »Ich habe euch gehört.«
    »Wie heißt du?«, fragte ich.
    »Chen Yuanyu. Und du?«
    »Wu Yimao.«
    »Wie alt bist du?«
    »Fünfzehn«, antwortete ich. »Du?«
    »Sechzehn«, sagte sie.
    Da war von ihrer Seite der Wand eine weitere Stimme zu hören: »Halt den Mund und schlaf jetzt!«
    Ich legte mich wieder hin und schwieg. Am nächsten Abend unterhielten wir uns wieder ein paar Minuten lang. Ich meinte, wir würden uns ja bald in der Schule sehen. Dann könnten wir länger reden.
    An unserem dritten Tag in Wuhu ging ich zur Schule. Ich flocht mein Haar zu ordentlichen Zöpfen, wusch mir das Gesicht und zog eine saubere Hose und eine geblümte Bluse an. Vor Aufregung hatte ich Herzklopfen. Die Fuzhong-Oberschule war der Universität angegliedert und lag eineinhalb Kilometer von unserem neuen Heim entfernt.
    Auf dem Schulgelände tummelten sich Hunderte von Schülerinnen und Schülern. Sie waren hübsch angezogen und sauber geschrubbt, ganz anders als die Schüler auf dem Land.
    Als ich mein Klassenzimmer betrat, saßen die meisten Schülerinnen und Schüler bereits an ihrem Platz. Mir fiel sofort der große Anteil an Mädchen auf. Von den rund achtzig Jugendlichen war mindestens die Hälfte weiblich. Ich strahlte vor Freude, denn auf dem Land hatte ich ja nur wenige Klassenkameradinnen gehabt.
    Die Lehrerin schrieb gerade etwas an die Tafel. Als ich zur Tür hereinkam, verstummten die Schüler und starrten mich an. Verwundert über die plötzliche Stille, hielt die Lehrerin inne und drehte sich zu mir um. Sie war eine zierliche, schlanke Frau mittleren Alters. Das Haar trug sie kurz geschnitten, und ihre Brille mit den runden Gläsern und dem Kunststoffgestell verlieh ihr eine geradezu Furcht einflößende Strenge. »Guten Morgen, Lehrerin«, sagte ich fröhlich und blickte mich nach einem freien Platz um.
    Doch die Frau funkelte mich eisig an, ohne meinen Gruß zu erwidern. Als ich zu einem Platz gehen wollte, baute sie sich vor mir auf. Mit finsterer Miene deutete sie auf meine Füße. »Wo sind deine Schuhe?«, fragte sie. »Geh heim und zieh dir Schuhe an, bevor du mein Klassenzimmer betrittst.«
    Ich war verdutzt. Auf dem Land hatte ich nie Schuhe getragen, sofern es nicht schneite oder sehr kalt war. Doch als ich die anderen Schüler musterte, stellte ich fest, dass sie allesamt Schuhe trugen. Ich schämte mich in Grund und Boden. Mein Gesicht glühte, und ich biss mir auf die Lippe, um nicht in Tränen auszubrechen. Die Schüler glotzten mich an. Ein paar kicherten.
    »Geh«, befahl die Lehrerin. »Los, los.« Sie wedelte mit der Hand, als wolle sie eine Fliege verscheuchen.
    Ich tappte rückwärts hinaus, und die Lehrerin schlug mir die Tür vor der Nase zu. Dann sagte sie etwas zur Klasse, was bei den Schülern schallendes Gelächter hervorrief. Ich verließ das Schulgelände und streifte benommen umher. Ich wusste nicht, was ich tun oder wohin ich gehen sollte. Schuhe besaß ich nicht, und auch nicht das Geld, um mir welche zu kaufen. Meine Eltern konnte ich nicht darum bitten, denn nach dem Umzug hatten wir fast kein Geld mehr. Mama hatte mit ihrer Suche nach einem Arbeitsplatz für Papa unsere Ersparnisse aufgebraucht, und ihr Gehalt würden sie erst in ein paar Wochen bekommen.
    Schließlich gelangte ich zu einem Schwarzmarkt, wo Bauern aus den umliegenden Dörfern ihre Ware ohne offizielle Genehmigung verkauften und lauthals mit den Städtern feilschten. Ich wanderte umher, schaute

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