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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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Schuhe auf den Boden und schlüpfte hinein. Es fühlte sich seltsam an, zum ersten Mal seit Jahren wieder in Schuhen zu gehen.
    Ohne Zöpfe, aber mit neuen Schuhen ging ich zur Schule zurück. Vor dem Klassenzimmer fuhr ich mir mit den Fingern durchs Haar, um ein wenig ordentlicher auszusehen. Ich atmete tief durch, stieß die Tür auf und betrat den Raum. Alle Blicke richteten sich auf mich. Die Lehrerin machte ein paar Schritte in meine Richtung, dann erkannte sie mich und sah hinab zu meinen Füßen. Stolz streckte ich den linken Fuß in dem Plastikschuh vor. In diesem Augenblick schien es mir, als müsse sich die Lehrerin ein Lächeln verkneifen. Sie fragte nach meinen Papieren, und ich gab sie ihr. Als sie meinen Mitgliedsausweis des Kommunistischen Jugendverbandes erblickte, machte sie große Augen.
    Sie wies auf einen leeren Platz und sagte: »Setz dich dorthin.« Die anderen Schüler lehnten sich aus ihren Schulbänken, um einen Blick auf meine Füße zu erhaschen. Als sie meine neuen Schuhe sahen, grinsten sie und tuschelten miteinander. Ich nahm zwischen zwei anderen Mädchen Platz. Sie begrüßten mich mit einem Lächeln. Gerade hatten alle im Chor Zitate des Vorsitzenden Mao rezitiert. Ich kannte die Worte seit Langem auswendig und stimmte in den Chor ein:
    Die Welt ist euer, wie sie auch unser ist, doch letzten Endes ist sie eure Welt. Ihr jungen Menschen, frisch und aufstrebend, seid das erblühende Leben, gleichsam die Sonne um acht oder neun Uhr morgens. Unsere Hoffnungen ruhen auf euch. Die Welt gehört euch, Chinas Zukunft gehört euch.
    In der Mittagspause rief mich die Lehrerin zu sich und teilte mir mit, dass nach dem Unterricht eine Versammlung des Kommunistischen Jugendverbandes stattfand.
    In meiner Klasse gab es sieben KJV -Mitglieder. Sie begrüßten mich herzlich in ihren Reihen. Noch vor wenigen Stunden war ich eine Außenseiterin gewesen, aber dank meiner Plastikschuhe und meiner KJV -Mitgliedschaft war ich jetzt eine von ihnen. Geleitet wurde unsere Gruppe von Zhou Yongzhong, was »dem Vorsitzenden Mao immer treu ergeben« heißt. Die Gruppe bestand aus drei Mädchen und vier Jungen. Als man mich fragte, welchen Titel ich beim KJV auf dem Land gehabt hatte, antwortete ich, ich hätte gar keinen gehabt. »Wir waren alle einfach Genossinnen und Genossen.« In der Stadt, sagte man mir, hätte jedes Mitglied einen Titel und eine Funktion. Es gab einen Gruppenleiter, einen Klassenordner, einen Politkommissar, einen Kulturkommissar und so weiter. Auf Beschluss der Gruppe sollte ich als Lernkommissarin meiner Klasse fungieren, was das unpolitischste Amt war. Ich würde es behalten, bis ich bewiesen hätte, dass ich rot genug sei. Meine Aufgaben bestanden darin, die Hausaufgaben meiner Mitschüler einzusammeln und morgens für die Lehrerin die Anwesenheitsliste zu führen.
    Als ich an jenem Abend zu Bett ging, hörte ich wieder leises Weinen von der anderen Seite der Wand. »Yuanyu?«, flüsterte ich.
    »Ja.«
    »Ich habe dich heute in der Schule nicht gesehen.«
    »Ich dich auch nicht.«
    »Wann können wir uns treffen? Kannst du mir den Straßenmarkt zeigen?«
    »Ja.«
    »Warum weinst du nachts immer, Yuanyu?«
    Ehe sie antworten konnte, bellte eine Stimme: »Haltet die Klappe!«
    Aus einer anderen Wohnung im hinteren Teil des Gebäudes rief eine Männerstimme: »Ruhe! Lasst uns schlafen!«
    Ein paar Minuten lang schwiegen wir beide. »Bis morgen!«, flüsterte ich so leise wie möglich. Yuanyu antwortete mit einem Kratzen an der Schilfmatte zwischen uns.
    Der nächste Schultag verlief für mich höchst ungewöhnlich. Alle waren adrett angezogen, doch niemand machte eine Bemerkung über meine fadenscheinigen, schlecht sitzenden Kleider. Allerdings musterten mich die anderen neugierig, als wäre ich irgendeine seltsame Kreatur. Sie wussten, dass ich vom Land kam, und viele hielten sich lieber von mir fern.
    Aber an diesem Morgen wie auch an jedem folgenden Morgen trat ich vor die Klasse und verlas die Namensliste, um die An- und Abwesenheiten festzustellen. Laut und vernehmlich rief ich jeden Namen. Es waren zweiundachtzig Schülerinnen und Schüler in der Klasse, und alle antworteten mit einem »Hier!«. Wenn jemand fehlte oder zu spät kam, notierte ich mir bei dem entsprechenden Namen einen Vermerk. Damit gewann ich den Respekt meiner Mitschüler. Landei hin oder her, ich besaß eine gewisse Autorität in der Klasse und gehörte dem KJV an. Am Ende des Halbjahres erstellte ich eine Liste all

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