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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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und horchte. Wenig später fand ich mich vor der Front eines schmuddeligen Ladens wieder. Auf einem handgeschriebenen Zettel im Fenster stand: »Kaufe alte Zeitungen, alte Bücher, alte Gummischuhe, leere Zahnpastatuben und Haare«. Ich ging hinein. Drinnen war es so dunkel, dass ich mehrmals blinzeln musste, bis ich etwas erkennen konnte. Es war ein winziger Raum, in dem es nach Holzkohle, vergammeltem Essen und Tabak roch. Mein erster Gedanke war, auf der Stelle umzukehren und zu verschwinden.
    Durch einen Nebel aus blauem Tabakdunst sah ich den Ladeninhaber auf einem Hocker an einem runden Tischchen sitzen. Der Mann erhob sich und humpelte auf mich zu. Er war uralt und ging gebeugt, trug einen altmodischen grauen Kittel und ein schwarzes Scheitelkäppchen. Aus seinem Mundwinkel ragte eine langstielige Pfeife. Er war ein ganzes Stück kleiner als ich, sein runzliges Greisengesicht reichte mir bis zum Kinn. Langsam, als wolle er mich nicht erschrecken, streckte er die Hand aus und betastete einen meiner langen Zöpfe.
    »Bist du gekommen, um dein Haar zu verkaufen?«, fragte er mit zittriger Fistelstimme.
    Ich wich einen Schritt zurück. Nach einer kurzen Pause hauchte ich: »Ja.«
    Mein Herz schrie »Nein«, doch mein Mund sagte »Ja«. Der Alte kehrte an seinen Tisch zurück, griff nach einem Gegenstand und sagte: »Komm her.« Ich trat in das spärliche Sonnenlicht, das durch ein kleines Fenster hereinfiel, und sah, dass er eine große eiserne Schere in der Hand hielt. Er griff einen meiner Zöpfe, hob ihn hoch, drehte ihn, begutachtete ihn aus nächster Nähe, prüfte sein Gewicht und seine Dicke und sagte: »Meine Güte, der ist richtig dick und schwer. Sehr gut.«
    Ich schwieg. Denn ich überlegte immer noch, ob ich den Laden verlassen sollte, ohne mein Haar zu verkaufen.
    »Vier Yuan«, meinte er. »Zwei pro Zopf.«
    Ich nahm ihm meinen Zopf aus der Hand, reckte das Kinn und forderte: »Fünf Yuan für beide.«
    Seine Stirn furchte sich, während er über mein Angebot nachdachte. »Einverstanden«, sagte er. »Fünf Yuan.«
    Er nahm meinen linken Zopf und zog ihn straff. Dann setzte er die Schere am oberen Ende an und begann zu schneiden. Ich schloss die Augen. Quietschend schnappte die Schere auf und zu. In meinem Innersten schrie etwas gequält auf. Doch ich rührte mich nicht von der Stelle.
    »So schönes Haar«, freute sich der Alte, nachdem er den einen Zopf abgeschnitten und in einen Bambuskorb geworfen hatte. Als er auch den anderen Zopf abgetrennt hatte, schlug ich die Augen auf und sah, wie er ihn ebenfalls in den Korb warf. Dann öffnete er ein Blechschächtelchen, zog einen Fünf-Yuan-Schein heraus und reichte ihn mir. Ich faltete die Banknote zu einem kleinen Viereck zusammen und schloss fest die Faust darum. Bei einem Blick über die Schulter sah ich meine wunderschönen Zöpfe aus dem Korb heraushängen. Es gab mir einen Stich. Ich drehte mich um und stolperte hinaus. Ohne meine Zöpfe fühlte ich mich fast nackt.
    Ich kehrte auf den Markt zurück und zog von einem Stand zum anderen, bis ich bei einem Schuhhändler ein Paar schwarze Plastikschuhe für vier Yuan und fünfzig Fen entdeckte. Die würden länger halten als Stoffschuhe, dachte ich mir, und außerdem waren sie billiger.
    »Ich hätte gern Schuhe«, wandte ich mich an die Verkäuferin.
    Sie musterte mich unfreundlich. »Welche Größe?«, bellte sie.
    Ich hatte keine Ahnung, welche Größe ich brauchte. Schließlich hatte ich seit fünf Jahren keine Schuhe mehr gekauft. »Das weiß ich nicht«, sagte ich.
    Sie warf einen Blick auf meine nackten Füße und erklärte: »Achtunddreißig!« Dann zog sie ein Paar aus einem Haufen und ließ es auf den Tresen plumpsen.
    Als ich einen der Schuhe an meinen Fuß hielt, stellte ich fest, dass er viel zu groß war. »Die passen mir nicht«, erklärte ich. »Ich brauche kleinere.«
    »Willst du nun Schuhe kaufen oder nicht?«, entgegnete sie unwirsch. »Hast du überhaupt Geld? Du siehst mir nicht danach aus. Kauf die da oder verschwinde.«
    Nach kurzem Überlegen kam ich zu dem Schluss, dass ich wohl hineinwachsen würde. Vielleicht war es gescheiter, etwas zu große Schuhe zu kaufen. Ich öffnete meine Faust und legte die Fünf-Yuan-Note auf den Tresen.
    Mit spitzen Fingern nahm sie den Schein, als wäre er schmutzig, strich ihn glatt und hielt ihn gegen das Licht, um seine Echtheit zu prüfen. Dann knallte sie mir das Wechselgeld auf den Tresen und kehrte mir den Rücken zu. Ich stellte die

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