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Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)

Titel: Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Wu
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an.
    »Eines Tages wirst du in all dem einen Sinn erkennen«, versicherte mir Mama, die meinen Gesichtsausdruck richtig deutete. »Aber jetzt, in diesem Chaos, musst du einfach Vertrauen haben und glauben, auch wenn es für dich schwer zu begreifen ist.«
    »Gut«, versprach ich ihr.
    Am Morgen erlaubte mir Gemeinschaftsleiter Huang, Mama ins Tal hinunter zu begleiten. Der Bus kam, sie stieg ein, und ich winkte ihr nach, bis sie aus meinem Blickfeld entschwand. Plötzlich fühlte ich mich sehr allein und verlassen. »Gott helfe mir!«, sagte ich und wartete. Aber nichts geschah.
    Ich gewöhnte mich an den Alltag des Dorflebens. Die Sonne ging bei uns erst nach neun Uhr hinter den östlichen Gipfeln auf und bereits um fünf Uhr nachmittags unter, was hieß, dass die Tage kurz und die Nächte lang waren. Allmorgendlich kochten Cuihua und ich einen Kessel Wasser ab und füllten es in eine Thermoskanne, dann garten wir Reis zum Frühstück. Auch zum Mittag- und Abendessen gab es Tag für Tag Reis und heißes Wasser. Der Jodmangel im Quellwasser der Berge und die einseitige Ernährung – Gemüse wuchs in dieser Höhe nicht mehr – führten dazu, dass viele Dorfbewohner einen Kropf hatten. Sie nannten es Dickhalskrankheit. Auch hervorquellende Augen waren verbreitet, ein weiteres Symptom der Mangelernährung.
    Täglich arbeitete ich von der Morgendämmerung bis zum Einbruch der Dunkelheit mit den Dorfbewohnern auf den terrassenförmig angelegten Feldern. Wir säten Reis, pflückten Teeblätter, fällten Bäume und schnitten Bambus. Ich lernte, mit einem langen Stecken durch das Unterholz zu fahren, um die Giftschlangen zu verscheuchen, die hier eine Plage waren. Eine dieser gefürchteten Schlangen wurde von den Dorfbewohnern Fünf-Schritte-Schlange genannt, denn wer von ihr gebissen wurde, machte höchstens noch fünf Schritte, ehe er tot umfiel. Eine andere war die bambusblattgrüne Schlange, die nicht vom Bambus zu unterscheiden war. Ihr Biss war genauso tödlich.
    Nur wenn es stark regnete oder schneite, durften wir zu Hause bleiben. Die Wochen reihten sich aneinander, und eine glich der anderen. Immerzu bat ich Gott um Regen oder Schnee. Als ich an einem Regentag vor einem Holzzuber kniete und meine schmutzige Kleidung wusch, merkte ich, dass jemand hinter mir stand. Ich nahm an, dass es Cuihua war, drehte mich um und erblickte als Erstes ein paar knöchelhohe weiße Turnschuhe – ein ungewöhnlicher Anblick, denn hier in den Bergen gingen die meisten von uns barfuß. Überrascht sah ich auf. Vor mir stand ein adrett gekleideter, gut aussehender junger Mann und lächelte mich an. Dabei wurde er knallrot. Ich stand auf und wusste nicht, wohin mit meinen nassen, seifigen Händen. Da kam Cuihua herein, sah den Besucher und sagte: »Wu Yimao, das ist Lehrer Zhu. Lehrer Zhu, das ist Wu Yimao, die neue gebildete Jugendliche aus deiner Heimatstadt Wuhu.«
    »Guten Tag, Lehrer Zhu«, sagte ich.
    »Bitte nicht so förmlich«, erwiderte er. »Nenn mich Zhu Yiping.«
    Sein Wuhu-Akzent ließ mich vor Freude erschaudern – vor mir stand jemand aus meiner Heimat! Nervös knetete ich meine Hände. »Ich habe gehört, dass eine neue Jugendliche eingetroffen ist, deshalb bin ich vorbeigekommen«, erklärte er. »Ich wollte nur mal Hallo sagen. Hast du dich schon an die Höhe und das Leben in den Bergen gewöhnt? Hier herrscht ja ein ständiges Auf und Ab.« Und er lachte. Mir war nicht wohl dabei, mit einem jungen Mann meines Alters zu sprechen, der so dicht neben mir stand und einen lässigen Plauderton anschlug. So eine Unterhaltung hatte ich noch nie geführt. Es fiel mir schwer, mein Unbehagen zu verbergen.
    »Wie lange bist du schon hier?«, brachte ich schließlich heraus.
    »Seit vier Jahren«, antwortete er. »Seit vier langen Jahren.«
    »Aber du bist Lehrer und kein Bauer?«
    »Ja«, bestätigte er. »Das ist eine interessante Geschichte. Ich stamme aus einer schwarzen Familie und wurde hierher geschickt, um auf dem Feld zu arbeiten. Doch vor einer Weile fuhr ein Bauer bei der Feldarbeit mit einem kleinen Traktor rückwärts und mir über den Fuß. Beinahe hätte er mich umgebracht, aber letztlich waren nur ein paar Knochen gebrochen, und ich musste zwei Monate lang das Bett hüten. Danach dauerte es noch Wochen, bis ich ohne Schmerzen gehen konnte.«
    »Warum haben sie dich denn nicht nach Hause geschickt?«, fragte ich. »Ich dachte, das sei so üblich?«
    Er lachte. »Oje, du bist wirklich noch neu hier! Glaub mir,

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