Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
nach draußen und zündeten eine Batterie Feuerwerkskörper. Kichernd und kreischend hielten wir uns die Ohren zu, während rote und gelbe Blitze die Dunkelheit erleuchteten und Explosionen von den nahe gelegenen Gebäuden widerhallten. Auch unsere Nachbarn waren draußen und feierten. Nicht weit entfernt sah ich Xiaolan und ihre Eltern, die sich aneinanderschmiegten und Kracher anzündeten. Ich winkte ihnen zu und rief: »Ein gutes neues Jahr«, als der Lärm gerade kurzzeitig nachließ. Xiaolan hörte mich, vollführte ein lustiges Tänzchen und winkte zurück.
Mitte Mai ordnete das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei eine »Große Proletarische Kulturrevolution« an. Der Vorsitzende Mao prangerte Parteifunktionäre an, die »den kapitalistischen Weg eingeschlagen« hätten, und warnte vor »konterrevolutionären Revisionisten« innerhalb der Partei. Die Zeit sei gekommen, Säuberungen innerhalb der Partei vorzunehmen und Staatsfeinde samt ihrem Gedankengut zu eliminieren.
An der Mauer der Pekinger Universität wurde ein großes Plakat angebracht, das die Studenten dazu aufrief, »alle Dämonen, Ungeheuer und konterrevolutionären Revisionisten entschlossen, gründlich und vollständig zu eliminieren«. Die
Volkszeitung,
das offizielle Organ der Kommunistischen Partei, druckte den Text des Plakates ebenfalls ab und forderte alle wahren Revolutionäre auf, die Führerschaft des Vorsitzenden Mao anzuerkennen. Wer sich ihm in den Weg stellte, so die Zeitung, müsse niedergestreckt werden.
An anderen Universitäten und Oberschulen taten sich Studenten und Schüler zusammen, um den neuen Kurs zu unterstützen. Sie warfen Lehrern, Verwaltungsangestellten und lokalen Regierungsvertretern vor, in Opposition zum Vorsitzenden Mao zu stehen. Es wurden Revolutionskomitees zur Koordination und Durchführung einer neuen Revolution gegründet.
Unsere Hoffnungen auf bessere Zeiten verflogen so rasch, wie das Krachen der Feuerwerkskörper zu Neujahrsbeginn verhallt war.
Laut den Radiomeldungen, die die Unruhen in Peking schilderten, ließen Studenten der Anhui-Universität am Vormittag des 1 . Juni den Unterricht ausfallen, gründeten Revolutionskomitees und brachten den Campus unter ihre Kontrolle.
Als Papa an diesem Tag seinen Seminarraum betrat, fand er dort keine Menschenseele vor. Auf der Suche nach den Studenten seines Literaturseminars begab er sich ins obere Stockwerk und entdeckte sie in einem überfüllten Raum, wo sie hitzig über die Revolution debattierten und Wandzeitungen entwarfen.
Er berichtete dem Dekan davon. Dieser riet ihm: »Dir bleibt nichts anderes übrig, als in deinem Seminar zu warten, bis die Studenten wiederkommen. Kommen sie heute nicht, kommen sie morgen, und wenn sie morgen nicht kommen, dann nächste Woche. Fass dich in Geduld. Der Sturm wird sich bald wieder legen.«
Also kehrte Papa in sein Zimmer zurück und setzte sich an einen Tisch. Über sich hörte er das donnernde Trampeln schneller Schritte, kämpferische Lieder und schrille Sprechchöre. Er starrte aus dem Fenster, lauschte und machte sich Sorgen. Er blätterte seine Unterlagen durch und legte sie in den Ordner zurück. Nach dem Ende der Stunde ging er heim.
Am nächsten Morgen erschien er wieder im Seminarraum, doch keiner seiner Studenten kam. Noch vor Ablauf der Stunde war er wieder zu Hause.
Am Freitag ging er gar nicht erst hin.
Der Lehrbetrieb an der Anhui-Universität wurde für mehrere Jahre ausgesetzt. Seine Studenten sah Papa nach dem I. Juni nur noch, wenn sie ihn aus unserer Wohnung zerrten, um ihn zu verprügeln und öffentlich anzuklagen. Oder sie sperrten ihn zusammen mit anderen Dozenten in Wohnheimzimmer, um ihn von Zeit zu Zeit herauszuholen und neuerlich zu schikanieren.
Die Große Proletarische Kulturrevolution war in Hefei angekommen.
Kapitel 13
A m 4 . Juni – dem Tag nach meinem achten Geburtstag, einem Samstag – stand ich früh auf und ging zu einem nahen Markt, um für meine Familie einzukaufen. Trotz der frühen Stunde waren scharenweise Studenten unterwegs. Viele standen in Grüppchen beisammen und diskutierten aufgeregt miteinander. An den Wänden von Universitätsgebäuden klebten mehrere große Wandzeitungen, vor denen sich Studenten versammelt hatten.
Als ich dann nach Hause zurückging, bevölkerten bereits Tausende von Studenten, aber auch andere Leute Rasen und Gehwege des Universitätsgeländes, sie riefen Losungen, sangen und deklamierten die Texte der Wandzeitungen. Die
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