Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Unruhen, die am Mittwoch begonnen hatten, arteten nun in Raserei aus. Einige Studenten kannte ich, sie besuchten Papas Seminare.
An jedem Gebäude, jedem Baum, jedem Pfosten auf dem Universitätsgelände klebten Wandzeitungen. Die Mauern um den Campus herum waren eine einzige riesige Plakatwand. Zudem hatte man zwischen Bäumen, Pfosten und Gebäuden Drähte und Schnüre gespannt, mit Schilfmatten behängt und selbst gemalte Plakate daran befestigt. Die meisten waren zwei- oder dreimal so groß wie Zeitungsseiten. Aber manche hatten auch Ausmaße von Bettlaken und waren aus einem ganzen Dutzend von Zeitungsseiten gefertigt. Und jedes Plakat, jede Wandzeitung hatte man von oben bis unten in kräftigem Rot und Schwarz mit Parolen, Thesen, Anklagen, Enthüllungen vollgeschrieben. Außerdem gab es Karikaturen und Bildergeschichten.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Wogen der Begeisterung und trug die Einkäufe in unsere Wohnung. Doch nachdem ich die Lebensmittel weggeräumt hatte, ging ich zum Campus zurück und schlenderte in der Menge umher. Ich schaute, las und hörte zu.
Studenten strömten aus verschiedenen Gebäuden, in denen sie Wandzeitungen geschrieben hatten. Die Tinte war noch nass, und wenn sie mit dem wehenden Papier vorbeieilten, bekleckerten sie Gehwege, Rasen und die Umstehenden. Schon bald waren meine nackten Füße rot-schwarz gesprenkelt, Hemden und Hosen der Studenten von Tinte durchtränkt, Arme und Hände fleckig. Mit hektischen »Aus dem Weg!«-Rufen zwängte sich eine Gruppe, die eine frisch gemalte Wandzeitung hoch über den Köpfen hielt, durch die Menge. Kaum entdeckten sie ein leeres Plätzchen, schlugen sie ihr Werk dort an und begannen es der Menge vorzulesen.
Zuerst dachte ich, alle hätten Spaß an der Sache. Das Ganze kam mir vor wie ein riesiger Spielplatz für Erwachsene. Doch dann stellte ich verwundert fest, dass keiner hier lachte oder auch nur lächelte. Wenn die Schüler an meiner Schule Wandzeitungen malten, war das immer ein Riesenspaß.
Auf vielen Plakaten wurde Ergebenheit gegenüber dem Vorsitzenden Mao bekundet und die Umsetzung der neuen Parteipolitik verlangt. Dabei sollten die Vier Alten ausgemerzt werden: das alte Denken, die alte Kultur, die alten Sitten und die alten Gewohnheiten. Andere Texte waren noch schärfer formuliert und forderten das Volk auf, »die Kuh-Dämonen und Schlangengeister hinwegzufegen« – Begriffe aus der chinesischen Mythologie, mit denen jetzt die Feinde des Volkes bezeichnet wurden: Grundbesitzer, reiche Bauern, Reaktionäre, schädliche Elemente, Rechtsabweichler, Verräter, Agenten, Anhänger des Kapitalismus und ihre Handlanger. Als Letztere galten vor allem die Hochschullehrer, die – wie hier enthüllt wurde – Seminarräume und Presse missbrauchten, um die Revolution zu untergraben, weil sie die Nationalisten [1] und kapitalistische Ausbeuter an die Macht zurückbringen wollten. »Die Intellektuellen halten sich für das Gehirn der Nation«, verkündete ein Plakat. »Doch in Wahrheit sind sie deren Scheiße«.
Nachdem ich eine Stunde lang zugesehen hatte, wie Studenten alte Wandzeitungen abrissen und neue aufhängten, stand ich plötzlich vor einem Plakat, das mich sehr erschreckte. Mein Herz pochte so laut, dass ich fürchtete, die Umstehenden könnten es hören. Das Plakat zeigte einen geduckten Tiger mit dem Gesicht eines Mannes, zwischen den langen Reißzähnen tropfte ihm Blut aus dem offenen Maul. Die Überschrift lautete: »Der Papiertiger Wu Ningkun ist noch nicht tot«.
Die Zeichnung hob Papas schwarzes Brillengestell und das quer über die Stirn gebürstete Haar hervor. Auf eine Backe hatte man ihm eine amerikanische Flagge gemalt. Hastig ging ich zum nächsten Plakat, doch es zeigte ebenfalls eine gemeine Karikatur von Papa. Auf einem weiteren wurde er beschuldigt, den sozialistischen Geist seiner Studenten zu zersetzen, indem er sie zur Lektüre bourgeoiser Texte zwang. Ein anderes verdammte ihn, weil er in seinem Seminar
Gullivers Reisen
und
Der Große Gatsby
behandelte.
Eine ganze Serie von Wandzeitungen behauptete, Papa habe Rundfunksendungen genutzt, um den studentischen Glauben in die Kommunistische Partei zu erschüttern. Tatsächlich hatte man ihm gestattet, in seinen Hörverständnis-Übungen auch mit Ausschnitten aus Sendungen der BBC und der Voice of America zu arbeiten. Weil es verboten war, »feindliche Sender« zu hören, brauchte Papa dafür eine Sondergenehmigung vom Amt für öffentliche
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