Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
Sicherheit. Er war der einzige ehemalige »Volksfeind« in Hefei, der eine solche Erlaubnis besaß. Doch jetzt stand er wegen dieser Radiomitschnitte unter Verdacht, und die Beamten, die ihm zu dieser Erlaubnis verholfen hatten, steckten ebenfalls in Schwierigkeiten.
Unter der Karikatur mit dem grinsenden Tiger hieß es, dass Papa trotz seiner Rehabilitierung ein Volksfeind geblieben sei. »Wu Ningkun«, hieß es da, »hat eine kriminelle Vergangenheit. Bereits 1943 arbeitete er als Dolmetscher für die imperialistische US -amerikanische Freiwilligen-Fliegerstaffel und für die Luftwaffe der Nationalisten. Während seines achtjährigen Aufenthalts in den Vereinigten Staaten wurde er heimlich als Spion ausgebildet. In der Tarnung eines Englisch-Professors kehrte er 1951 zurück, um an der Yenching-Universität zu unterrichten. Seine Verbrechen wurden aufgedeckt, als er als Rechtsabweichler angezeigt und am 17 . April 1958 inhaftiert wurde.«
Ich hatte nur gewusst, dass Papa weg war, als ich klein war. Und dass er drei Jahre in Konzentrationslagern im Nordosten Chinas verbracht hatte. Ich wusste nicht einmal genau, was ein Konzentrationslager war.
Beim Lesen schaute ich mich immer wieder nervös um. Ich fürchtete, jemand könnte mich als Tochter des Mannes auf dem Plakat erkennen, anklagend mit dem Finger auf mich zeigen und festnehmen. Ich wünschte mir, dass ein Windstoß diese Plakate wegriss. Dass ein Wolkenbruch die hasserfüllten Worte und Bilder fortschwemmte. Dass alle um mich herum innehielten, nach Hause gingen und vergaßen, was sie gelesen hatten. Während ich durch die Menge nach hinten schlüpfte, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten und bedeckte die Augen mit der flachen Hand. Plötzlich packte mich jemand an der Schulter. Ich sah auf und erkannte einen von Papas Studenten, einen jungen Mann, der uns oft zu Hause besucht hatte. Ein halbes Dutzend andere bildeten einen Halbkreis um mich. Alle lächelten.
»Du kannst lesen, was da steht, stimmt’s?«, fragte der Student, der mich an der Schulter festhielt. Dabei wies er auf das nächste Plakat.
»Nein«, antwortete ich schüchtern.
Er deutete auf die Schriftzeichen am unteren Rand des Plakats und las laut vor: »Unser großer Vorsitzender Mao sagt, dass die US -Imperialisten und Reaktionäre Papiertiger sind.«
Ich starrte wortlos auf das Plakat.
»Hab keine Angst«, sagte er, und die anderen nickten. »Wir sind deine Freunde. Wu Ningkun ist unser Feind.«
Eifrig sprach der Anführer der Gruppe weiter: »Du liebst den Vorsitzenden Mao. Wir lieben den Vorsitzenden Mao. Wir sind Genossen. Wir alle.«
Einer flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf er strahlend meinte: »Komm mit. Wir helfen dir dabei, eine solche Wandzeitung zu malen. Das würde dir doch Spaß machen, oder?«
Ich war viel zu verängstigt, um abzulehnen.
Eine Studentin nahm meine Hand und führte mich mit festem Griff durch die Menge. Meine Begleiter sprachen begeistert über das Plakat, das sie jetzt machen wollten. »Bist du eine Revolutionärin oder eine Reaktionärin?«, fragte mich einer.
Ich kannte die richtige Antwort auf diese Frage und erwiderte zaghaft: »Eine Revolutionärin.«
Alle lachten.
Im ersten Stock ihres Wohnheims lagerten ein hoher Stapel alter Zeitungen und mehrere große Dosen mit schwarzer und roter Tinte. Der Studentenführer sagte: »Kleine Revolutionärin Yimao, du wirst eine Wandzeitung malen, die deinen Vater anklagt.«
»Ich weiß nicht, wie man so was macht.« Meine Stimme zitterte.
»Wir zeigen es dir.«
Die Studenten falteten Zeitungen auseinander und klebten die einzelnen Seiten zu einem einzigen großen Blatt zusammen. Ein Student tauchte einen Pinsel in die schwarze Tinte und gab ihn mir. »Ich helfe dir«, meinte er, fasste mich am Handgelenk und führte meine Hand so, dass wir große Schriftzeichen zu Papier brachten. Bei jedem Pinselstrich unserer Hände sprach er laut mit. »Nieder mit dem Kuh-Dämonen«, schrieben wir, »dem Schlangengeist, dem konterrevolutionären, grinsenden Papiertiger, dem ultrarechten US -Spion Wu Ningkun! Lang lebe der große Vorsitzende, unser Führer Mao!«
Darunter schrieben wir meinen Namen: »Wu Yimao«.
Voller Anerkennung lasen die anderen Studenten den Text laut vor.
Dann nahmen zwei von ihnen vorsichtig das Plakat, und wir zogen auf den Campus hinaus. Kaum hatten sie meine Wandzeitung aufgehängt, sammelte sich eine Menge darum und las sie.
Danach hatten die Studenten alles Interesse an
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