Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
mir verloren. Völlig verstört bahnte ich mir meinen Weg durch die Menge und kehrte nach Hause zurück. Ich konnte nur beten, dass Papa und Mama die Wandzeitung nie zu sehen bekamen und dass ihnen niemand davon erzählte. Hoffentlich würde bald jemand eine andere darüberkleben.
Beim Abendessen erzählte Yiding, dass er die Wandzeitungen auf dem Universitätsgelände gesehen habe. Er wollte von Papa wissen, was Schlangengeister und Kuh-Dämonen seien. »Nichts«, antwortete Papa, »du solltest dir deswegen nicht den Kopf zerbrechen.«
Da wusste ich, dass Papa mein Plakat gesehen hatte. Ich wollte alles gestehen und ihm sagen, wie leid es mir tat. Und dass man mich dazu gezwungen hatte. Aber mir fehlte der Mut. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte ich auf die Tischplatte.
Kapitel 14
J eden Abend fanden Massenkundgebungen statt. Studenten marschierten mit Trommeln und Becken über den Campus, sangen revolutionäre Lieder und skandierten Parolen. Der ununterbrochene nächtliche Lärm raubte uns den Schlaf. Über Nacht schienen sich die wissbegierigen Studenten, die einst scharenweise und voller Bewunderung Papas Seminare besucht und ihn »Mr. Chips« genannt hatten, in eine frenetische, hasserfüllte Horde verwandelt zu haben. Ihre dröhnenden Aufmärsche jagten mir Schauer über den Rücken.
Bald wurden die militanten Studenten dreister und nahmen diejenigen gefangen, die sie »Klassenfeinde« nannten. Sie zerrten sie zum Sportplatz der Universität, um sie öffentlich zu verhören und zu bestrafen. Und sie schworen, jeden Feind des Volkes zu entlarven.
Papa holten sie am Abend des 6 . Juni.
Als sich die lärmende Prozession unserem Haus näherte, ließ ihr bösartiges Gebrüll die Fensterscheiben klirren. Doch urplötzlich verstummten die lauten Rufe, und das Trommeln hörte auf. Eine einzelne Stimme bellte Befehle. Und es brach aus der Menge heraus: »Nieder mit Wu Ningkun! Nieder mit dem US -Spion!«
Das Ungeheuer, das ich mir ausgemalt hatte und das Papa Nacht für Nacht zum Weinen brachte, es war nun unten und brüllte seinen Namen. Krachend wurde die Haustür aufgestoßen, dann polterten Schritte die Treppe hoch. Am liebsten wäre ich weggerannt und hätte mich versteckt. Aber wo? Hätte ich doch Flügel gehabt! Dann hämmerte es an unserer Tür. Mehrere Stimmen brüllten: »Mach auf, oder wir treten die Tür ein, du dreckiger amerikanischer Spion.«
Großmutter zog ihr Moskitonetz zurück, schlüpfte aus dem Bett und humpelte in der Dunkelheit zur Tür. Kaum hatte sie den Riegel weggeschoben, flog die Tür auf, als hätte ein Windstoß sie aufgerissen. Studenten drängten herein und rannten über den Korridor. Einer machte Licht und schrie: »Wo ist dieser Scheißkerl Wu Ningkun?«
Ich erkannte Chen Congde. Er hatte uns oft in unserer Wohnung besucht, um sich mit Papa zu unterhalten und Nachhilfestunden zu bekommen. Papa hatte uns erzählt, dass er eine »gute bäuerliche« Abstammung habe, aber ein bisschen langsam sei, weshalb man ihn unserem Vater zur speziellen Förderung zugewiesen hatte. Kurz kreuzten sich unsere Blicke. Was für ein verblüffender Unterschied zu dem schüchternen, ehrerbietigen Studenten, den ich bisher gekannt hatte. »Ich bin Vorsitzender des Komitees der Kulturrevolution«, kreischte er. »Wo hat sich dieser Erzschurke Wu Ningkun versteckt?«
»Wir haben ihn!«, rief einer aus dem Nebenzimmer.
Chen Congde rannte hin. Zwei Studenten hatten Papa an Armen und Haaren gepackt und schrien: »Du kommst mit uns, Spion!«
Barfuß und nur mit Boxershorts und einem T-Shirt bekleidet, stand Papa in der Tür. Die Studenten hatten ihn fest im Griff.
Meine Kehle war wie zugeschnürt, dennoch entrang sich ihr ein verzweifelter Schrei: »Papa!« Schluchzend klammerte sich mein Bruder an mich. Großmutter stand, von einem wütenden Studenten festgehalten, wie angewurzelt an der Wand. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. Zwar bewegten sich ihre Lippen, doch man hörte keinen Laut.
»Hab keine Angst, Maomao«, sagte Papa zu mir gewandt. »Ich bin bald wieder da.«
Er brachte gerade noch ein tapferes Lächeln zustande, bevor ihn ein Student am Kragen packte und ihm einen heftigen Stoß versetzte. Stolpernd verschwand Papa aus meinem Blickfeld. Draußen ertönte lautes Geschrei und Gejohle, als die Eindringlinge mit Papa auftauchten. Die Menge umringte ein Dutzend Professoren, die schon vorher festgenommen worden waren. Papa wurde zu dieser Gruppe geführt, worauf der
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