Feder im Sturm: Meine Kindheit in China (German Edition)
nicht als Erste angeboten hatten, sich erschießen zu lassen.
»Wir müssen für unsere Verbrechen gegen das Volk büßen«, warf eine Professorin ein. »Wir müssen für unsere Verbrechen büßen und … und … dafür, dass wir unsere Studenten so enttäuscht haben … und … und dass wir das Volk enttäuscht haben.«
Wieder riefen die anderen: »Ja! Ja!«
Der Parteifunktionär lobte ihre Selbstkritik. »Sehr gut. Ausgezeichnet. Ja, wirklich ganz ausgezeichnet.«
Die Versammlung wurde von einer Lautsprecherdurchsage unterbrochen. Es wurde bekannt gegeben, dass die Universitätsleitung all ihrer Pflichten entbunden sei und ein Arbeitsausschuss der Volksbefreiungsarmee die Verwaltung der Hochschule übernehmen werde.
Bevor der Parteifunktionär die Professoren entließ, richtete er noch einmal das Wort an sie: »Ihr habt euch heute vorbildlich verhalten. Geht jetzt nach Hause und schreibt eure Geständnisse.« Offenbar hatte er vergessen, dass er ihnen diese Aufgabe bereits gestellt hatte. Und als sich die Dozenten am nächsten Tag versammelten, erschien er erst gar nicht. Außer Papa hatte jeder Professor sein noch einmal erweitertes Geständnis dabei und wollte es unbedingt abgeben.
Auch Mamas Arbeitsgruppe unterwarf sich einer täglichen politischen Belehrung und verfasste Geständnisse. Der übliche Lehrbetrieb wurde eingestellt und geriet in Vergessenheit. In den nächsten Tagen zog eine große Zahl von Soldaten auf das Universitätsgelände und übernahm die Verwaltung der Hochschule. Andere Soldaten besetzten verschiedenste Posten in ganz Hefei und übernahmen die Regierungsaufgaben.
Doch mit Beginn der Sommerferien verließen fast alle Studenten den Campus, und die Flamme der Revolution in Hefei schien nahezu erloschen.
Kapitel 15
I n diesem Sommer drängten sich Massen von Studenten in den Zügen, weil die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos waren. Und so reisten sie scharenweise durchs Land, besichtigten historische Stätten der Revolution und machten sich kundig, wie die Studenten in anderen Teilen Chinas die Revolution vorantrieben. Dabei wurden sie manchmal von jungen roten Dozenten begleitet.
Ein Pflichtbesuch galt Peking, wo die Kulturrevolution ihren Ausgang genommen hatte und der Vorsitzende Mao, »die allerröteste Sonne unserer Herzen«, regierte. Hunderttausende von Studenten versammelten sich dort, lasen und malten Wandzeitungen, tauschten Ideen aus und spornten einander zu noch größerem Enthusiasmus für die Revolution an.
Papas Rehabilitierung wurde rückgängig gemacht, er galt wieder als Rechtsabweichler. Alle Fakultätsmitglieder und Verwaltungsangestellte seien verdächtig, erzählte er Mama. Ganz gleich, ob rehabilitiert oder nicht, niemand wisse, welches Schicksal ihn erwarte. Meine Eltern unterhielten sich nur noch in gedämpftem Ton, als fürchteten sie, dass jemand im Flur oder draußen sie belauschte. Und Großmutter war so angespannt und nervös, dass sie beim leisesten Geräusch hochschreckte. Nachts saß sie auf ihrem Bett und starrte verstört und ängstlich an die Wand.
Mein älterer Bruder verbrachte Stunden damit, gegen sich selbst Schach zu spielen. Manchmal sah ich ihm dabei zu und beneidete ihn um seine Fähigkeit, sich so vollständig in das Spiel versenken zu können. Mein jüngerer Bruder hingegen klammerte sich ständig an meinen Vater oder meine Mutter.
Und ich hatte Angst, dass sie wieder in unser Haus eindringen würden. Nachts quälten mich Albträume.
Die Soldaten auf dem Campus und in der Stadt sorgten für ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Schließlich bestand die Volksbefreiungsarmee aus Kämpfern für das Volk. Der Anblick eines Soldaten wirkte immer beruhigend auf mich. Auf sie konnte man sich verlassen, sie würden die Ordnung aufrechterhalten und Unrecht verhindern. Man hatte mich gelehrt, dass Soldaten Helden waren. Ich beneidete Kinder aus roten Familien, die eines Tages selbst Soldaten der Volksbefreiungsarmee werden konnten.
In der dritten Juniwoche bekam ich schlimme Zahnschmerzen. Da ich Mama und Papa nicht damit behelligen wollte, untersuchte ich im Spiegel meinen Mund und entdeckte ganz hinten einen schwarzen Zahn, um den herum das Zahnfleisch geschwollen war. Ich versuchte, den Zahn mit den Fingern herauszuziehen, doch er bewegte sich kein bisschen. Auch Xiaolan konnte mir nicht helfen. Also beschloss ich, zum Zahnarzt zu gehen.
Am nächsten Morgen machte ich mich auf den Weg in die einzige Zahnklinik von Hefei, die
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